Milchschaum
Organisationstalent«, sagte Fanni zur toten Frau Kundler.
Ihr Blick fiel auf einen Strauß frischer weißer Lilien, der in einer dunkellila Porzellanvase steckte.
Geschmackvoll, dachte Fanni.
Insgesamt war das Grab auffällig gut gepflegt.
Herr Kundler muss die Lilien gerade eben erst gebracht haben, überlegte Fanni, sonst würden sie längst die Köpfe hängen lassen bei dem Frost heute.
Kundler verwöhnt seine tote Frau nachgerade, stellte Fanni fest, ohne zu bemerken, wie absurd dieser Gedanke war.
Drückt ihn ein schlechtes Gewissen?, fragte sie sich. Fühlt er sich schuldig, weil sich das Herzleiden seiner Frau vor drei Jahren drastisch verschlechterte, als sie erfahren musste, dass er ihr jahrzehntelang eine uneheliche Tochter verschwiegen hatte, die er aber regelmäßig besuchte? Fühlt er sich als Verräter, weil diese uneheliche Tochter mitsamt ihrem vermutlich unehelichen Kind nach Frau Kundlers Tod zu ihm zog?
»Ich hoffe«, sagte Fanni zu der toten Frau Kundler, »Sie sind toleranter als unsere Nachbarn vom Erlenweiler Ring. Selbst Frau Praml, die sich für modern hält, krächzt mit ihrer Kreissägenstimme: ›Beleidigend, beleidigend, beleidigend.‹ Fühlen Sie sich beleidigt, Frau Kundler?«
Fanni schüttelte anstelle der Toten den Kopf und ging weiter.
»Gruber«, »Klein«, »Saller« . Fanni pflückte die Handschuhe vom Grabstein und zog sie an.
Der nächste Querweg gab ein schmal eingerahmtes Blickfeld auf die Begräbnisstätte des Bürgermeisters frei. Die Kränze darauf bildeten einen stattlichen, recht bunten Hügel, Spruchbänder raschelten im Wind. Vor dem Kranzberg befand sich ein kleiner schwarz-weißer Buckel.
Fanni verengte die Augen. Dieser zweite Hügel sah aus wie ein riesiges Kissen, weiß mit schwarzen und goldenen Mustern.
Sie machte ein paar Schritte darauf zu.
Im nächsten Augenblick bereute sie es. Aus dem Kissen ragten schwarze Schuhe, rosige Patschhändchen und ein dunkler Haarschopf.
Fanni stolperte einen Schritt zurück, als ihr klar wurde, dass das, was sie für ein Kissen gehalten hatte, der Birkdorfer Pfarrer Winzig war.
Seine Fleischmassen bauschten das weiße Chorhemd und das schwarz-goldene Messgewand zu einem Polster. Pfarrer Winzig war seit Jahren fettleibig im besten pathogenen Sinn. Fanni hatte sich hie und da gefragt, wann ihn der Schlag treffen würde.
Hatte es ausgerechnet heute sein müssen?
Soll ihn doch finden, wer will, dachte Fanni. Sie wollte auf der Stelle weg hier. Hastig drehte sie sich um.
»Ich habe nichts gesehen, gar nichts«, flüsterte sie und kniff die Augen zu. Doch auch das konnte die Stimme, die nun in ihrem Kopf laut wurde, nicht mundtot machen.
He, Fanni Rot! Hast du komplett den Verstand verloren? Was wenn ihn der Schlag bloß gestreift hat, nicht getroffen? Vielleicht lebt er noch, der Herr Pfarrer. Vielleicht erholt er sich wieder, wenn er schnell genug in eine Stroke Unit gebracht wird.
Stroke Unit! Hatte nicht Frau Praml neulich behauptet, die Stroke Unit vom Klinikum Deggendorf und die vom Bezirkskrankenhaus Mainkhofen machten sich gegenseitig Patienten streitig?
Egal, Fanni! Sieh zu, dass er Hilfe bekommt – schnell!
Fanni dachte an ihr Handy, das sie selten irgendwohin mitnahm, und schon gar nicht auf Beerdigungen.
Frau Fanni lernt halt nicht aus Erfahrungen! Los jetzt, Bewegung!
Sie begann zu rennen, hastete über die Kieswege zurück auf den Birkenplatz hinaus und keuchte ins Dorfwirtshaus, wo die Trauergäste bereits ihre Knödel in Soße tränkten. Niemand nahm Notiz von ihr. Fanni schlüpfte auf den leeren Platz neben ihrem Mann und zupfte ihn am Ärmel.
»Wo bleibst du denn so lang?«, murrte er. »Dein Essen wird kalt.«
»Der Pfarrer liegt vor dem Grab«, flüsterte Fanni.
Hans Rot schüttelte unwillig den Kopf und grunzte: »Es ist der Bürgermeister, und er liegt im Grab. Iss was Warmes, damit dein Hirn wieder auftaut.«
Fanni seufzte. »Der Bürgermeister liegt im Grab, und der Pfarrer ist davor zusammengebrochen.«
Hans Rot hörte auf zu essen. Fanni beschrieb das Bild, das sie noch deutlich vor Augen hatte.
Ihr Mann legte sein Besteck beiseite, zog das Handy aus der Innentasche seines Jacketts, stand auf und hastete aus der Gaststube.
So macht man das, Fanni!
Fanni starrte auf die Fettränder an den Fleischscheiben auf ihrem Teller. Nach einer Weile kam Hans zurück, eilte an seinem Platz am Tisch vorbei, beugte sich von hinten über die Schulter des Schützenvorstandes und flüsterte
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