Milliardengrab (German Edition)
genommen«, herrschte tagelang
»Funkstille«. Es war Hans, der dann schlichtend eingriff und, die Wogen
zumindest oberflächlich glättete. Doch nach diesem Vorkommnis war nichts mehr
wie vorher. Die Spannung lag immer in der Luft und es war absehbar, dass es zu
einer grundsätzlichen Auseinandersetzung kommen würde. Nicht zuletzt auch deshalb,
weil Julia unbeherrscht und aufbrausend war, und dabei sehr verletzend sein
konnte. Sie neigte dazu, ihr Handicap auszunutzen. Einmal warf sie sogar mit
einem schweren Kristallaschenbecher nach Nora.
Dass
Julia sehr emotional, unbeherrscht und manchmal auch ungerecht war, führte Hans
auf ihr schweres Los zurück. Nora war lebenslustig und in den Augen von Hans zu
flatterhaft. Wann immer es zu Diskrepanzen kam, Hans war verlässlich an Julias
Seite.
Während
Hans gesprochen hatte, war Julia immer blasser geworden und zitterte am ganzen
Körper. Hans hatte sie noch nie so gesehen und er bereute, dass er ihr diese
Dinge erzählt hatte. Eigentlich wollte er sich selbst mitteilen. Jahrelang
hatte ihn dieses Wissen belastet. Julia verließ wortlos die Küche. Das
ursprüngliche Thema, die SED und ihre moralische Bewertung, und ob es
vertretbar erschien weiter für diese Leute zu arbeiten, kam nicht mehr zur
Sprache.
Schweigend
humpelte Julia hinaus. Hart hallte es wieder, wenn ihre künstlichen Beine auf
den Steinboden traten. Dieses Geräusch trieb sie manchmal bis an die Grenze des
Wahnsinns. Einen Augenblick stand sie am Fenster des langen Korridors und sah
den fallenden Regentropfen zu. Erst war es nur Enttäuschung, die sich ihrer
bemächtigte, doch als sie die Treppen hochstieg und den Schmerz in ihren
Stümpfen (hier spielte auch das Wetter eine Rolle) fühlte wandelte sich dieses
Gefühl allmählich in Wut.
Als
sie sich schließlich auf das riesige französische Bett und stellte mit
Genugtuung fest, dass die Schmerzen jetzt nachließen. Nicht nach ließ ihre Wut
und ihre Enttäuschung Noras wegen. Ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie ein
ganzes Leben lang wie ein Krüppel hinkte, Nora trug schuld daran, dass sie
keinen Mann, keine Familie und keine Kinder haben konnte. Bis heute war sie der
Meinung gewesen, dass es sich damals um ein Unglück gehandelt habe. Sie kannte
Hans. Wenn er es auch nicht ausgesprochen hatte, doch für sie stand fest: Nora hatte
sie damals absichtlich vor den Zug gestoßen. Sie war immer schon eifersüchtig
gewesen, weil Hans eben sie, Julia bevorzugte. Es war eben eine Tatsache, dass
Nora als Kind aufsässig gewesen war.
Deswegen
waren Noras Schuldgefühle also so ausgeprägt, weil Hans wusste welch schwere
Schuld sie auf sich geladen hatte. Zugegeben, Nora kümmerte sich um sie -doch
kaum war sie weg, und das war sie immer öfter, dann lebte sie ihr Leben, genoss
alles was ihr versagt war. Wie oft hatte sie sich während ihres einsamen
Sexuallebens nach Zärtlichkeiten gesehnt. Doch sie war so unnahbar, dass es
kaum jemand wagte sie anzusprechen - schon gar kein männliches Wesen. Sie
wusste dies - und verhielt sich so, weil sie es vorstellen konnte, welche
Überwindung es einem Mann kosten würde mit einer Frau ohne Beine im Bett zu
liegen. Jetzt war Julia so weit, dass Wut und Enttäuschung in Hass übergingen
-irgendwie war sie Froh. Dass Nora jetzt nicht hier war. In dieser
Gemütsverfassung wäre sie möglicherweise zu allem fähig gewesen. Sie versuchte
zu schlafen - doch die heftige Gemütsbewegung ließ sie keinen Schlaf finden. Im
Gegenteil, sie steigerte sich immer mehr in diese Vorstellung, dass Nora sie
absichtlich vor den Zug gestoßen hatte, hinein.
Die
Maschine lag ruhig in der Luft. Nora nippte an einem Tomatensaft. Der Prozess
in Berlin, das bevorstehende Gespräch zu Hause, die politischen Veränderungen -
diese würden über kurz oder lang auch ihre Lebensverhältnisse einschneidend
beeinflussen - und die übrigen Passagiere waren vergessen. Sie war mit ihren
Gedanken weit weg und versank vorübergehend in eine Welt von Glück, Leidenschaft
und Liebe. Sogar ihr Gesicht verklärte sich, so sehr vereinnahmten sie diese
Gedanken. All ihre Probleme und Ängste verflüchtigten sich. Sie fühlte sich ihm
in diesem Moment so nah. Wie ein kleines Kind zählte sie die Stunden, die sie
noch ohne ihren Liebsten verbringen musste.
Für
den nächsten Tag hatte sie einen Flug nach Nizza gebucht und am darauffolgenden
Wochenende würde Phillip zu ihr an die Côte d’Azur kommen. Phillip! Das Gefühl
in ihrem Bauch
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