Milner Donna
den langen Ferien zu Hause und habe an diesem Abend Dad begleitet. Er hatte eine Vorliebe für Weihnachtskonzerte. Ich war damals nicht gerade ein Fan, aber an das Gedicht erinnere ich mich. Mein Vater hat es sehr gemocht.«
Und ich mag diesen Mann, dachte ich, während wir unsere Erinnerungen austauschten.
»Ein paar Jahre später bin ich sogar hier herausgekommen«, fügte er vorsichtig hinzu, »während der Suche nach River.«
»Ja, ich habe gehört, dass du und dein Vater geholfen habt. Ich habe dich nicht gesehen. Damals habe ich kaum etwas gesehen.«
Ich wende mich vom Fenster ab, sobald ich Schritte im Flur höre.
Stanley streckt den Kopf zur Tür herein. »Kann ich dir etwas zeigen?«, fragt er und winkt mir, ihm zu folgen. Wir gehen über die neue Massivholztreppe hinauf in den Dachboden.
So unverändert mein Zimmer geblieben ist, so wenig ist Boyers altes Nest wiederzuerkennen. Die enge Kammer ist in ein Arbeitszimmer verwandelt worden. Die untere Hälfte der schrägen Wände ist durchgehend mit Büchern tapeziert, die aber jetzt alle ordentlich auf Ahornregalen stehen. Statt des kleinen Schiebefensters, aus dem man über die vertrauten Felder und Berge geblickt hat, gibt es jetzt eine Gaube mit gepolstertem Fenstersitz – und derselben Aussicht.
Das schwindende Sonnenlicht fällt durch den schrägen Teil des Fensters. Es beleuchtet die Wand am anderen Ende des Zimmers. Die einzige gerade Wand unter dem Dach. Das Rahmenarrangement über dem Schreibtisch weckt mein Interesse. Jeder Rahmen enthält einen Zeitschriften- oder Zeitungsausschnitt. Die Wand ist gepflastert mit meinen Artikeln, Geschichten und Buchbesprechungen!
Jemand – Boyer – hat die Stationen meiner Journalistenlaufbahn sorgfältig montiert und an die Wand gehängt. Selbst mein allererster Artikel, der in der Zeitung veröffentlicht wurde, für die ich als Akquisiteurin gearbeitet hatte, ist da.
Stanley lässt sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. Er beobachtet mich, während ich die Ausstellung betrachte. Nach ein paar Augenblicken zieht er eine Schublade auf und holt einen mit Papieren gefüllten Ordner heraus. Wortlos überreicht er ihn mir. Darin finde ich Unmengen handgeschriebener Gedichte. Boyers Gedichte. Ich setze mich auf das Liegesofa und überfliege einige von ihnen; Stanley wartet.
»Sie sind schön«, sage ich, während ich sie auf mich wirken lasse. »Schön. Ich bin so froh, dass er nicht mit dem Schreiben aufgehört hat.«
»Du fehlst ihm, Natalie«, sagt Stanley leise.
»Und er fehlt mir auch.« Ich zwinge mich zu einer Antwort in der Hoffnung, dass mir die Stimme nicht versagt. Wenn er wüsste, wie sehr ich meinen Bruder vermisse! Ich empfinde die Lücke, die er in meinem Leben hinterlassen hat, jeden Tag so, als fehlte ein Teil von mir. Ständig führe ich imaginäre Gespräche mit ihm, doch wann immer ich sein Gesicht sehe, bleiben mir die Worte, die ich sagen möchte, im Halse stecken. »Ich kann nicht glauben, dass er dieses ganze alte Zeug aufbewahrt hat«, sage ich und deute mit der Hand auf die Wand.
»Er ist so stolz auf dich«, sagt Stanley.
Ich blicke ihm forschend ins Gesicht. Es ist das Gesicht eines guten Menschen. Die Falten, die die Zeit um seine Augen gegraben hat, zeugen nur von Sorge.
»Dass ich Journalistin geworden bin, habe ich Boyer zu verdanken«, erzähle ich. »Er war der Erste, der mich pro Wort bezahlt hat.« Ich sehe das Glas voller Pennys auf der Fensterbank in meinem Zimmer vor mir. »Jetzt bekomme ich ein bisschen mehr als einen Penny pro Wort.« Ich lache. »Aber nicht viel mehr!« Selbst in meinen Ohren klingt mein Lachen gezwungen.
»Wirst du ihm jemals verzeihen?«, fragt Stanley unvermittelt.
Seine Worte überraschen mich. Es ist dieselbe Frage, die Mom mir erst vor ein paar Stunden gestellt hat. Boyer? Ich soll Boyer verzeihen?
»Ihm verzeihen? Aber was denn?«, frage ich.
Stanleys freundliche Augen halten meinem Blick stand, aber es kommt keine Antwort.
Dann sage ich ihm, was ich Boyer immer hatte sagen wollen. Das, was ich heute auch Mom sagen wollte. »Ich bin es doch, die ihn um Verzeihung bitten sollte.«
Stanley rückt seinen Stuhl weiter und setzt sich neben mich.
»Ich bin nicht hierhergekommen, weil ich ihm nicht gegenübertreten kann. Ich verdiene nicht, in seiner Nähe zu sein. Es war meine Gedankenlosigkeit, die sein Leben ruiniert hat.« So einfach wie diese Einleitung sprudelt nun alles heraus. Meine Schuldgefühle, meine Scham,
Weitere Kostenlose Bücher