Mina (German Edition)

nach dem Tod in der Nähe des Hauses bleibt, ehe sie davonfliegt. Anderswo glaubt man, dass die Seele niemals diese Welt verlässt, sondern sich in einen Vogel verwandelt. Wenn das wahr wäre – wenn die Vögel, die wir sehen, die Seelen von Menschen sind …
    Ich blickte hinauf zum Dach, wo eine Amsel rief. Beschattete die Augen gegen die Helligkeit der Sonne. Ganz weit oben sah ich winzige schwarze Punkte: Lerchen.
    Dann stand Mama hinter mir. Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter.
    „Ich wünschte, ich hätte ihn gekannt, als er jung war“, sagte ich.
    Mama lachte. „Dann wärst du jetzt wahrscheinlich selbst schon eine alte Frau.“
    Ich dachte über ihre Worte nach.
    „Er war ein netter Kerl“, sagte Mama. „Ich weiß noch, wie er einmal, als ich dich im Kinderwagen durch die Gegend geschoben habe, aus dem Haus kam. Er drückte dir ein Geldstück in die Hand. ,Ein kleiner Schatz für das Schätzchen‘, sagte er dann.“
    „War Papa auch da?“
    „Ja. Ja, das war er.“ Plötzlich zuckte Mama zusammen. „Was ist das?“, fragte sie.
    „Was ist was?“
    „Das. Da im Haus, Mina.“
    Wir beide spähten durch die Scheibe, und dann sahen wir die schwarze Katze durch die offene Zimmertür in den Gang spazieren.
    „Oh“, hauchte sie erleichtert. „Nur eine Katze.“
    Ich lächelte beim Anblick meines kleinen, wilden Freundes. Bestimmt gab es jede Menge Mäuse in Mr Myers’ Haus.
    „Es haben sich schon Leute das Haus angeschaut“, sagte ich.
    „Gut. Es ist schön, neue Nachbarn zu bekommen.“
    „Aber vielleicht sind sie langweilig“, sagte ich. „Sie sahen jedenfalls langweilig aus.“
    „Du weißt doch, dass man Leute nicht nach ihrem Aussehen beurteilen kann, Mina.“
    „Ich weiß. Aber sie sahen wirklich langweilig aus …“
    Sie lachte. „Vielleicht solltest du ein Schild an die Tür kleben, auf dem steht: ,Nur interessante Menschen dürfen dieses Haus kaufen!‘“
    „Das ist eine gute Idee!“
    „Na ja, ein Haus zu kaufen ist in jedem Fall eine sehr komplizierte Angelegenheit, und wer immer dieses da kaufen wird, hat eine Menge Arbeit vor sich. Das wird die meisten Leute abschrecken. Es hat also nicht viel zu bedeuten, wenn sich jemand das Haus anschaut.“
    „Ich weiß.“
    Ein blauer Wagen fuhr langsam vorbei. Der Mann hinter dem Steuer schaute durchs Seitenfenster. Er hielt den Wagen an. Die Frau neben ihm beugte sich zu ihm, sodass auch sie durchs Fenster schauen konnte. Aber sofort richtete sie sich wieder auf. Sie redeten kurz miteinander, dann fuhren sie weg.
    „Wäre doch schön, wenn es eine Familie kaufen würde, oder?“, sagte Mama.
    Ich zuckte mit den Schultern.
    „Es wäre doch nett, wenn sie ein Kind in deinem Alter hätten, was meinst du?“
    „Mir egal“, sagte ich.
    Sie lächelte sanft. „Wirklich?“
    „Wirklich. Sie müssen nur …“
    „Interessant sein?“
    „Ja! Interessant!“
    Wieder lächelte sie und plötzlich kam ich mir ganz komisch vor. Sie streckte die Hand aus und tätschelte meinen Arm.
    „Das sind sie ganz bestimmt“, sagte sie.
    Wir gingen wieder zu unserem Haus. Wieder bog der blaue Wagen in unsere Straße ein und fuhr langsam an Mr Myers’ Haus vorbei.
    Die Amsel stieß einen Warnruf aus.
    „Glaubst du eigentlich, dass Vögel die Seelen Verstorbener sind?“, fragte ich.
    Sie dachte nach.
    „Nein. Eigentlich nicht. Aber es ist eine schöne Vorstellung. Glaubst du daran?“
    „Nein. Vögel sind auch so schon bemerkenswert genug, ohne auch noch Seelen sein zu müssen.“
    Mama ging wieder ins Haus. Ich kletterte wieder auf den Baum.
    Die Amsel beobachtete mich. Ich beobachtete den Mann und die Frau, die aus dem blauen Wagen stiegen. Sie gingen zu Mr Myers’ Fenster. Die Frau sah schwanger aus. Beide wirkten sehr nett.
    „Sind die Eier schon da?“, flüsterte ich den Amseln zu.
    Kreisch! Kreisch! Kreisch!
    Zum Mittagessen gab es Käse, Bananen, Teigteilchen mit Zuckerguss und Granatapfelsaft. Granatapfel! LECKER ! WAS FÜR EIN GESCHMACK ! UND WAS FÜR EIN WORT !

    Während des Essens redete Mama über Vögel und Seelen. Sie sagte, dass manche Menschen glauben, die Seele sterbe niemals, sondern wandere von einem Körper zum nächsten, sogar in die Körper von Tieren. Das nennt man Seelenwanderung. Es ist eine Art von Wiedergeburt oder Reinkarnation. Sie erzählte mir von Plato, dem Hinduismus und dem Buddhismus. Sie sagte, dass manche Leute glauben, wenn man kein gutes und anständiges Leben gelebt habe, würde man als Insekt