Mina (German Edition)
angeschaut haben. Ein Mann starrte durch das Vorderfenster. Er schaute hinauf zum Dach. Er machte sich Notizen. Dann kletterten ein Mann und eine Frau über den Haufen Gerümpel und schauten ebenfalls zum Fenster hinein. Sie drehten sich um und blickten die Straße entlang, als ob sie überlegten, ob die Gegend gut genug für sie wäre. Sie haben mich nicht gesehen. Sie wirkten sehr grau, sehr langweilig. „Kaufen Sie es nicht!“, beschwor ich sie im Stillen. Sie wechselten ein paar Worte, schüttelten die Köpfe und gingen davon, ohne das Haus noch einmal anzuschauen.
Gott sei Dank!, seufzte ich stumm.
Dann bog ein großer Müllwagen in die Straße ein. Er blieb mit quietschenden und ächzenden Bremsen vor Mr Myers’ Haus stehen. Ein Mann sprang aus dem Fahrerhaus. Er trug einen orangefarbenen Overall. Er zog sich ein paar dicke Handschuhe an und eine Atemschutzmaske über den Mund, als ob er es mit tödlichem Gift zu tun hätte. Er hob das ganze Gerümpel auf und warf es hinten in den Müllwagen. Und er bemerkte mich, wie ich ihm dabei zuschaute. Er lachte und winkte. Als er fertig war und mit seinem Wagen an meinem Baum vorbeikam, bremste er ab und kurbelte das Fenster herunter.
„Hallo, Kleine!“, rief er.
Seine Augen waren fröhlich und strahlend.
„Hallo!“, antwortete ich.
„Du siehst so aus, als ginge es dir richtig gut da oben in deinem Baum.“
„Das stimmt“, sagte ich.
„Braves Mädchen!“ Er grinste und zuckte mit den Schultern, als ob er noch etwas sagen wollte, aber nicht wusste, was. Dann rief er noch: „Lebe dein Leben, Kleine!“
Und dann war er weg und brachte die Überreste von Mr Myers’ Leben auf die Müllkippe.
Was kann man denn sonst machen, als sein Leben zu leben? Aber er meinte natürlich, ich solle mein Leben gut leben, ich solle es voll auskosten. Und das zu jemandem zu sagen, ist doch wirklich sehr nett. Ich beabsichtige übrigens, seinem Rat zu folgen!
Plötzlich war die Straße leer und still. Ich sprang vom Baum und ging hinüber zu Mr Myers’ Haus und durch den Vorgarten zum Fenster, wo ich mein Gesicht ganz nah an die Scheibe schob, die Hände rechts und links der Augen, und nach drinnen spähte. Da war nichts zu sehen, nur schmutzige Holzböden, viel Staub und eine beigefarbene Tapete mit verblasstem Blumenmuster, die sich von der Wand abschälte. Die Decke sah feucht und rissig aus, und an einer Stelle war der Putz abgeblättert. Die Zimmertür stand offen. Ich stellte mir vor, wie Mr Myers mit seinem Gehstock hindurchschlurfte und in der Diele verschwand. Mama erzählte mir, dass er die letzten Monate im Erdgeschoss gelebt hatte. In dem Raum, der früher als Esszimmer gedient hatte, hatten ein Bett und eine Toilette gestanden.
Es ist merkwürdig, dass jemand einfach aus der Welt verschwinden kann. Mr Myers war in seiner Jugend ein Leichtathlet gewesen – ein Läufer und ein Weitspringer. Er hatte sogar an den englischen Meisterschaften teilgenommen. Im Zweiten Weltkrieg war er Kampfpilot gewesen. Mama sagte, dass er dreimal verheiratet gewesen war. Und jetzt war alles vorbei. Aber eigentlich doch nicht. Er war nicht ganz verschwunden. Etwas von Ernie Myers war noch in dem Haus – Hautschuppen zum Beispiel.
Staub in Häusern (und Büros und Schulen und an allen anderen Orten, wo Menschen leben und arbeiten) besteht hauptsächlich aus winzigen Stückchen menschlicher Haut. Wenn wir also Staub in einem Sonnenstrahl wirbeln und tanzen und funkeln sehen, dann wirbelt und tanzt und funkelt da tote menschliche Haut! Da ist noch anderes Zeug dabei – Pflanzenpollen, Papierfasern, Fäden und Hautschuppen und Haare von Tieren wie Katzen oder Hunden, aber der Hauptbestandteil ist menschliche Haut! Und die Haut von unzähligen Menschen vermischt sich und tanzt im Licht, und die Haut der Lebenden und die Haut der Toten vermischt sich und tanzt im Licht! Und die Haut von Tieren und die Haut von Menschen vermischt sich und tanzt im Licht! Und dieses Vermischen ist überall um uns herum, und es ist ganz gewöhnlich und sehr außergewöhnlich und ungeheuer merkwürdig!
Außergewöhnliche Aktivität
Betrachte den Staub, der im Licht tanzt.
Auch Mr Myers’ Geruch steckt bestimmt noch in dem Haus. Pipiflecken auf dem Holzboden vielleicht. Vielleicht haben sich Moleküle von seinem Atem mit der Luft im Haus vermischt. Vielleicht ist seine Seele noch dort.
An manchen Orten auf der Welt glauben die Menschen, dass die Seele eines Verstorbenen noch viele Tage
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