Mina (German Edition)
sie schüttelt den Kopf und grinst. „Nicht fluchen“, sagt sie.
Ich bin gerne allein und mit ihr zusammen (und mit Wisper dem Kater, mit den Amseln und den Eulen). Sie weiß das, und sie sagt, dass ich mich sehr gut mache, aber kürzlich setzte sie sich zu mir und sagte: „Es wird eine Zeit kommen, da du mehr brauchst als das hier.“
„Nein, bestimmt nicht.“
„Doch, glaub mir. Du wirst Freunde brauchen.“
„Freunde?“, flüsterte ich.
Sie streichelte mein Haar. Sie nahm mich in die Arme und wiegte mich, als ob ich noch ein Baby wäre.
„Ja, Mina. Freunde. Du wirst ganz tolle Freunde haben, wenn du erst einmal damit anfängst. Und eines Tages wirst du natürlich auch anfangen, über Jungs nachzudenken.“
„Über was ?“
„Über Jungs .“
Ich zog die Nase hoch und schaute zur Seite, obwohl ich wusste, dass sie Recht hatte.
„Nein, werde ich verdammt noch mal nicht!“, sagte ich.
Sie lachte. „Nicht fluchen! Aber keine Sorge: Wir gehen es langsam an. Eins nach dem anderen.“
Hat sie Recht? Muss ich wieder zur Schule gehen? Ich kann es mir nicht vorstellen. Mama meint, ich übertreibe, aber meiner Meinung nach sind Schulen wirklich Gefängnisse. Sie waren es immer und sie werden es immer sein.
Es gibt ein Gedicht, das ich vor einiger Zeit geschrieben habe. Ich klebe es mal in mein Tagebuch.
Ich schrieb das Gedicht, nachdem Mrs Scullery (oder wie die hieß) versucht hatte, uns die Zeiten zu erklären, den Unterschied zwischen Gegenwart, Vergangenheit und der Zukunft.
„Jetzt hört mir genau zu, Kinder“, sagte sie, als ob wir schwer von Begriff wären oder zurückgeblieben oder Babys. „Wenn ich etwas in der Gegenwart tue, sage ich: Ich tue es. Wenn ich sage, dass ich es in der Vergangenheit tat, sage ich: Ich tat es. Und wenn ich sage, dass ich es in der Zukunft tun werde, sage ich: Ich werde es tun. Verben sind Tätigkeitswörter 3 und sie haben Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich habe eine Übung für euch vorbereitet. Ihr müsst die Zeiten der Verben entsprechend der Angabe verändern. Versteht ihr das? Natürlich versteht ihr das. Es ist ja auch ganz klar.“
Und damit teilte sie Arbeitsblätter aus. Darauf stand eine sehr langweilige Geschichte über ein Mädchen, das durch eine Stadt lief und unterwegs viele Leute traf.
Gähn, gähn. Wir mussten die Gegenwartsform in die Vergangenheitsform umwandeln. Wir bekamen von Mrs Scullery ziemlich viele Arbeitsblätter wie dieses hier – Sätze mit Lücken, in die wir die fehlenden Wörter einsetzen mussten, oder Sätze, in denen die Wörter durcheinander geraten waren. Dann mussten wir sie wieder sortieren, damit die Sätze einen Sinn ergaben. Das war alles kinderleicht und so kindisch dämlich. Normalerweise fügte ich mich in mein Schicksal und füllte die Arbeitsblätter brav aus, aber an diesem Tag habe ich wohl aufgestöhnt oder so.
„Ja, Mina?“, sagte Mrs Scullery. „Möchtest du etwas sagen?“
Normalerweise sagte ich dann immer „Nein, Miss“, aber an diesem Tag sagte ich: „Nun, die Sache ist die, Mrs Scullery, dass es überhaupt nicht klar ist. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sind in Wirklichkeit viel geheimnisvoller, als Sie behaupten.“
„Ach tatsächlich? Nun, dann lass uns doch bitte an deiner Weisheit teilhaben.“
Das ist so typisch für sie. SARKASMUS ! ICH HASSE SARKASMUS ! Besonders wenn er von Lehrern kommt. Aber ich tat es: Ich ließ sie an meiner Weisheit teilhaben.
„Ja, Miss“, sagte ich. „Die Zeiten sind wirklich sehr geheimnisvoll. Die Vergangenheit zum Beispiel war für die Menschen, die in ihr lebten, die Gegenwart. Und die Zukunft wird rasend schnell zur Gegenwart werden und genauso schnell zur Vergangenheit. Und in unseren Gedanken existieren die Vergangenheit, die Gegenwart und die Erwartung der Zukunft alle gleichzeitig.“
Sie stand da mit vor der Brust verschränkten Armen und wartete darauf, dass ich fortfuhr. Und so fuhr ich fort: „Von Anfang an haben Menschen versucht, die Zeit zu verstehen, und sie haben es immer noch nicht geschafft.“
Sie seufzte. „Bist du fertig?“, fragte sie.
„Nein. Das Geheimnis der Zeit kann also nicht auf ein Arbeitsblatt über Verbformen reduziert werden.“
Sie seufzte noch tiefer. Sie starrte aus dem Fenster des Klassenzimmers in den dunkler werdenden Nachmittag. Sie dachte bestimmt, dass sie besser Verkehrspolizistin oder Kriminalbeamtin geworden wäre. Oder vielleicht auch ein
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