Mina_Hepsen_03-Unsterblich wie die Liebe
vor allem das
zweite Kleid - tatsächlich war es das schönste Kleid, das Nell je besessen
hatte. Es bestand aus teurem goldenen Taft, mit einem gewagten Ausschnitt,
engem Mieder und weitem, schwingendem Rock. Wie gesagt, einfach umwerfend.
»Für den Tanz
morgen«, hatte Adam gesagt und ihr verschwörerisch zugezwinkert. Dann hatte er
sich über die Theke
gebeugt und gemurmelt: »Es ist nur eine schwache Entschuldigung, aber Sarah und ich
möchten, dass du weißt, wie leid es uns tut. Deine Eltern waren
gute Leute. Wir hätten dem Vikar schon viel früher Paroli bieten sollen.«
Nell blinzelte jäh
aufsteigende Tränen fort. Sie hasste Adam und Sarah und alle anderen
Dorfbewohner schon so lange, dass diese nette Geste sie vollkommen aus der Bahn
warf. Hatten sie sich wirklich mit dem Vikar angelegt? Zum ersten Mal, seit sie
ins Dorf heimgekehrt war, fragte sie sich, warum der alte Pfarrer wohl gegangen
war. Sie konnten ihn doch nicht tatsächlich aus dem Amt getrieben haben?
»Na, wen haben wir
denn da? Wenn das nicht die kleine Storm Witherspoon ist!«
Diese Stimme kannte
Nell. Sie blickte auf und sah, dass eine glänzende schwarze Kutsche neben ihr
angehalten hatte. Aus dem Fenster beugte sich ein vertrautes Gesicht, das sie
mit unverhohlenem Hass musterte.
»Hallo, Elisabeth.«
Elisabeths schönes
Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Wie kannst du es wagen! Für dich Lady Morton,
du Bauerntrampel!«
Nell war verwirrt. Es
hatte eine Zeit gegeben, da waren sie und Elisabeth, nur ein Jahr älter als
sie, unzertrennlich gewesen. Es hatte keine Rolle gespielt, dass sie arm war
und Elisabeth reich. Für Elisabeths Mutter, Star, Skys einzige und über alles
geliebte Schwester, war Nell wie eine zweite Tochter gewesen, und sie hatte sie
oft auf ihr Anwesen eingeladen, das etwa eine Stunde vom Dorf entfernt lag.
Auch Elisabeth hatte sie immer wie eine Schwester behandelt, selbst nachdem
Star an Schwindsucht gestorben war.
Aber einige Jahre
später, als Elisabeth dreizehn wurde, hatte ihr Vater, Lord Morton, ein zweites
Mal geheiratet. Elisabeth hatte nicht nur eine Stiefmutter bekommen, sondern
auch einen Stiefbruder, der genauso alt war wie sie. Thomas war der ideale
Bruder und auch für Nell ein guter Freund geworden ... Wie viele Sommer und
Winter hatten sie hier zu dritt im Dorf gespielt? George hatte sich ihnen oft
angeschlossen, wenn er mit der Farmarbeit fertig war.
Doch dann hatten sich
die Dinge geändert. Nell konnte nicht sagen, wann genau und warum. Aber
Elisabeth war ihr gegenüber zunehmend feindselig geworden. Und seit dem Tag, an
dem George ihr seinen Heiratsantrag gemacht hatte, war sie nie wieder zu Besuch
gekommen. Und auch Thomas war wenig später zum Universitätsstudium abgereist.
Danach hatte Elisabeth kein Wort mehr mit ihr geredet.
»Was ist? Willst du
gar nichts sagen?«, fragte Elisabeth bitter.
Nell fiel nichts,
aber auch gar nichts ein, was sie zu ihrer Cousine hätte sagen können. Sie
hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sie verstehen zu wollen. »Was soll ich
denn sagen, Lady Morton?«, fragte sie müde.
Elisabeths Augen
verengten sich bedrohlich. Nell beschloss, wenigstens höflich zu sein. »Ich
hoffe, es geht Ihnen gut?«
Zu ihrem Erstaunen
wurde Elisabeths Gesicht rot vor Wut Ihre Augen blitzten. »Du hoffst, dass
es mir gut geht? Als ob du dich um mein Wohlbefinden scherst! Als ob du dich je
darum geschert hättest! Hat es dich gekümmert, wie ich mich fühlte, als George
dir einen Heiratsantrag gemacht hat?«
»Was?« Nell war wie
vor den Kopf geschlagen. Jetzt begriff sie gar nichts mehr. »Ich weiß nicht,
was du ...«
»Natürlich nicht!«,
stieß Elisabeth grimmig hervor. »Was weißt du schon von unerwiderter Liebe? Dir
haben die Männer ja schon immer aus der Hand gefressen, nicht wahr, Storm?«
Nell machte den Mund
auf, wollte ihrer Cousine widersprechen, aber Elisabeth ließ sie nicht zu Wort
kommen.
»Ich weiß nicht,
warum du wieder zurückgekommen bist. Aber eins will ich dir versichern: Ich
werde dir das Leben hier zur Hölle machen! Hast du verstanden?« Nach diesen
Worten gab sie dem Kutscher einen Wink und fuhr davon.
Die Zweifel, die Nell
nach ihrem Besuch im Kaufladen gekommen waren, waren nun wie weggewischt.
Sobald dieser Monat vorüber war, dachte sie, während sie sich auf den Heimweg
zum Cottage machte, würde sie von hier verschwinden. Und nie wieder
zurückkommen.
Sie würde Georgina
regelmäßig schreiben, nahm sie sich vor. Und wenn das
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