Mira und der weiße Drache (German Edition)
für mich zu«, sagte Herr Sperling und sah Mira dann erleichtert zu, wie sie die Leiter erklomm.
Mira stieg ein zweites Mal die Leiter hinauf und steckte vorsichtig den Kopf durch die Luke. Das Schaukelpferd vor ihrer Nase wippte sacht hin und her. Miranda war weg! Mira kletterte weiter hoch, zwängte sich durch den Spalt und schlängelte sich zwischen dem Schaukelpferd, alten Koffern, einem verblichenen Gemälde, das eine schöne dunkelhaarige Frau zeigte, und ausrangierten Körben zu dem kleinen Turmfenster, das sie mit einiger Mühe schloss. »Hier ist niemand!«, rief sie nach unten. »Aber das Fenster war tatsächlich offen!«
Dann sah sie es. Sie wandte sich gerade zum Gehen und stieß mit der Fußspitze dagegen.
Das Buch, das Miranda auf dem Schoß gehabt hatte, lag in aller Eile hingeworfen auf dem staubigen Boden. Es war in dunkelgrünem, abgewetztem Samt gebunden und hatte ein seltsames Zeichen auf dem Umschlag, das Mira nach einer Weile als »M« entziffern konnte. Sie hob es hoch. Es war nicht besonders schwer. Der grüne Samt fühlte sich weich in ihren Händen an. Mira schlug es an einer beliebigen Stelle auf, doch statt Buchstaben sah sie nur eine Zeichnung, in der ein Fisch in einem Gewässer schwamm. Das Buch wirkte geheimnisvoll und anziehend, und so machte Mira etwas, was sie noch nie in ihrem Leben zuvor getan hatte. Ohne viel darüber nachzudenken, steckte sie es in ihre Umhängetasche neben Gullivers Reisen .
Dann kletterte sie rasch die Leiter wieder herunter.
Herr Sperling sah Mira dankbar an, während sie sich den Staub von der Kleidung klopfte. »Vielen Dank«, sagte er, »ich hätte da jetzt nicht mehr hochgewollt, meine Knie machen das nicht mehr mit.«
»Gern geschehen.« Mira lächelte und merkte, wie sie rot bis in die Haarspitzen wurde.
Sie stiegen die schmale Treppe hinunter und kamen schließlich wieder bei dem Kassenhäuschen heraus. »Also, vielen Dank für die Führung und für Gullivers Reisen !«, sagte Mira. »Kein Problem«, erwiderte Herr Sperling freundlich. »Bring es einfach am Ende deiner Ferien wieder vorbei!« Mira wurde wieder rot. »Darauf können Sie sich verlassen«, murmelte sie leise.
Dann verabschiedete sie sich schnell. Ihr Herz klopfte laut, als sie sich auf den Weg hinunter in die Stadt machte. Sie wagte nicht mehr, sich umzusehen, fasste in die Umhängetasche neben sich und spürte, wie das Buch gegen ihre Knie schlackerte. Was hatte sie getan? Sie hatte geklaut. Noch dazu bei jemandem, der so nett zu ihr war.
»Ich werde das grüne Buch zurückbringen. Gleich morgen frage ich Herrn Sperling, ob ich die Bibliothek noch einmal sehen darf. Dann kann ich es ganz einfach wieder zurück in die Bibliothek legen und keiner wird etwas bemerken«, versuchte sie sich zu beruhigen. »Trotzdem habe ich geklaut«, sagte eine andere Stimme in ihr und Mira wurde heiß. Sie hatte in ihrem Leben noch nicht mal einen Kaugummi gestohlen. Und jetzt ein altes, sicher wertvolles Buch!
Das grüne Buch in der Tasche schien zu brennen, und Mira wünschte sich, sie könnte das, was sie getan hatte, rückgängig machen. Sie kümmerte sich nicht mehr um die hübschen Läden, an denen sie vorbeieilte, lief unter dem Torbogen hindurch, der das Ende der Altstadt markierte, und sah bald in der Ferne die blauen und grünen Garagentore leuchten, die sie zum Haus ihrer Tante lotsen würden.
Und wäre sie nicht so mit sich selbst beschäftigt gewesen, hätte sie sicher die kleine Amsel bemerkt, die weit über ihr aufgeregt flatterte und jeden ihrer Schritte verfolgte.
5. Kapitel
in dem Mira sich überlegt, ob man einen Drachen mit »Sie« anspricht
Tante Lisbeth öffnete missmutig die Tür, nachdem Mira geklingelt hatte. »Es ist aber spät geworden«, sagte sie in anklagendem Ton. »Die Burg ist weiter weg, als ich dachte«, erwiderte Mira, während sie ihre Schuhe auszog. Sie hoffte, die fälligen Vorwürfe schnell hinter sich zu bringen, um in ihr Zimmer zu gelangen, wo sie endlich ungestört wäre. »Was hast du denn da in der Umhängetasche?«, fragte Tante Lisbeth neugierig.
»Nur ein Buch. Ich habe es mir in einer Buchhandlung in der Altstadt gekauft.« Mira sah für einen flüchtigen Augenblick ihr Spiegelbild in dem großen Wandspiegel in der Diele. Sie war ganz rot geworden, als sie ihrer Tante diese Lüge auftischte. Die aber schien nichts zu bemerken und hängte Miras Jacke auf einen Kleiderbügel in der Garderobe.
»Na gut, dann geh schon in dein Zimmer, aber in
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