Mira und der weiße Drache (German Edition)
überlegte fieberhaft. Wie sprach man wohl mit einem Drachen? Mira war nun wirklich nicht geübt im Umgang mit Fabelwesen. Sicher war es gut, höflich zu bleiben, und so entschloss sie sich, den Drachen zu siezen. »Auf der Rückseite können Sie sich vergrößert sehen«, sagte sie schließlich und kippte den Standspiegel einmal um seine Achse. Auf der anderen Seite war ein Vergrößerungsspiegel, in dem sich der Drache nun mit noch größerer Begeisterung als vorher betrachtete. (Soweit das überhaupt möglich war!)
Nach einer langen Weile wandte er sich unwillig von seinem Spiegelbild ab, klappte seine – zugegebenermaßen prächtigen – Flügel wieder ein und begann sich in dem kleinen Zimmer umzusehen. Dabei wanderte sein Blick von den Puppen mit dem starren Blick zum hässlichen Kleiderschrank und dann zu Miras Kleidern, die als wirres buntes Knäuel über dem Stuhl hingen. Schließlich verweilten seine Augen zunehmend irritiert auf dem billigen Radiowecker, der neben dem Spiegel stand. Klapp! Eine Zahl sprang von 17:59 Uhr auf 18:00 Uhr und der Drache hüpfte erschreckt auf. Schließlich wandte er sich Mira zu, die er prüfend musterte. »Welches Jahr schreiben wir?«, fragte er schließlich. Mira sagte es ihm. Der Drache nickte beeindruckt und starrte auf den Radiowecker, wo die Eins sachte über die hintere Null fiel.
»Nun gut.« Er warf wieder einen kurzen Blick in den Spiegel und prüfte, ob die schimmernden Schuppen auf seinem Rücken aufgestellt oder flach besser aussahen.
»Würdet Ihr mich jetzt bitte dem Empfangskomitee vorstellen?« »Also«, erwiderte Mira, »ich weiß nicht so recht, was Sie meinen. Ich könnte Ihnen unten meine Tante vorstellen, aber die würde sicher vor Schreck tot umfallen. Und sonst ist niemand im Haus.«
Der Drache lief ärgerlich hin und her.
»Was soll das heißen? Ich, Cyril de Montignac, Großzauberer, Bester meines Standes, Erfinder der Verwandlungen, Zeichner, begnadeter Künstler und bester Schauspieler meiner Zeit, wenn ich das in aller Bescheidenheit so sagen darf, ich werde nach 450 Jahren wieder beschworen und es gibt kein Empfangskomitee?« Der Drache musterte Mira ausgiebig und stieß schließlich eine jetzt eher lila schillernde Wolke hervor.
»Nach all dieser Zeit lande ich bei Kindern!« Er schnaufte empört. »Kinder, die gar keine Ahnung haben! Steckst du etwa mit dieser kleinen Hexe zusammen, die mich vorhin gerufen hat?« »Nicht direkt«, stotterte Mira. »Ich habe die Beschwörungsformel von ihr. Aber eigentlich kenne ich das Mädchen nicht.« »So, so.« Der Drache blickte Mira ungeduldig an. »Und wo ist deine Zauberfamilie? Oder ein Stellvertreter des Rates der weißen Zauberer?« Mira spürte, wie sich ein dicker Kloß in ihrem Hals bildete. »Also, ich habe keine Zauberfamilie, weil ...« Sie räusperte sich und der Drache sah sie ungeduldig an. Mira holte tief Luft. »Ich bin gar keine Hexe oder so was.« Der Drache runzelte die Stirn. »Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch«, brachte Mira schließlich heraus. Der Drache zuckte für einen Augenblick zurück. Dann ließ er ein paar graue Gedankenwölkchen aufsteigen, die dicht vor Miras Nase zerplatzten. Er begann wieder auf den Buchseiten hin und her zu laufen, was sie zunehmend nervös machte.
»Ich darf also zusammenfassen. Du bist ein zufällig dahergelaufenes Menschenkind, das eine kleine Hexe belauscht hat, die, woher auch immer ...« An dieser Stelle rollte der Drache theatralisch mit den Augen. »... einen der wertvollsten Sprüche der Zauberwelt kannte. Dann hast du das Buch wahrscheinlich gestohlen ...« Jetzt blickte er Mira scharf an, die sofort errötete.
»... und hier in dieser Kammer den Spruch ausprobiert.«
Der Drache seufzte tief und blieb plötzlich stehen. »Und was das Schlimmste ist, er hat sogar funktioniert. Ich nehme an, du hast wirklich nicht die geringste Ahnung, wen du vor dir hast.« Bei diesen Worten sank der Drache vor Miras Augen zusammen und stieß ein mickriges schwarzes Wölkchen aus, das sang- und klanglos über seinem Kopf verpuffte. Nach einer langen Weile erhob er sich und sah Mira an.
»Dabei haben die weißen Zauberer den Spruch, mich zu beschwören, immer geheim gehalten. Jahrhundertelang wurde er von einem Spruchbewahrer zum anderen weitergegeben. Es ist schon ein sehr außergewöhnlicher Zufall − oder«, fügte er düster hinzu, »eine außerordentliche Panne −, dass ausgerechnet du jetzt vor mir stehst.«
Dabei blies er nachdenklich
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