Mira und der weiße Drache (German Edition)
einer halben Stunde gibt es Tee«, sagte sie noch, während sie zurück in die Küche ging.
Mira nickte. Froh, endlich allein zu sein, stieg sie die enge Treppe hoch in den ersten Stock. Dort angekommen, schloss sie die Zimmertür hinter sich und atmete tief durch. Mit klopfendem Herzen setzte sie sich an das kleine Tischchen neben dem Bett, schob den goldenen Standspiegel beiseite und zog das Buch aus ihrer Tasche, um es sich genauer anzusehen.
Als sie die Seiten vorsichtig aufschlug, sah sie zu ihrer Verwunderung keinen einzigen Buchstaben. Stattdessen fanden sich auf jeder Seite schöne, seltsam anmutende Zeichnungen.
Da waren schwarze Vögel vor einer hellen Sonne, oder waren es weiße Vögel vor schwarzer Nacht? Manche Bilder zeigten nur ineinander verschlungene Muster. Erst als Mira genauer hinsah, erkannte sie, dass die Dreiecke Kröten waren, die Kröten Vögel, die Vögel Fische und die Fische Boote. Jedes Bild schien ein seltsames Geheimnis zu bergen. Mira bemerkte Dinge, die es in Wirklichkeit so gar nicht geben konnte. Wasserfälle, die aufwärts strömten, oder eigenartige Gebäude, die in sich selbst gebaut waren. Als sie weiterblätterte, fiel ihr auf, dass die Zeichnungen auf einmal auf dem Kopf standen. Überrascht drehte sie das Buch um und merkte, dass die andere Umschlagseite der ersten auf das Haar glich. Man konnte sich das Buch also von zwei Seiten anschauen!
Sie blätterte wieder ein paar Seiten zurück. Da waren ein weißer Drache und ein schwarzer Drache. Der eine bildete die Begrenzung des anderen und sie lagen auf der Doppelseite genau in der Mitte des Buches. Im Gegensatz zu den anderen Figuren wirkten sie allerdings recht einfach skizziert.
Miras Herz klopfte jetzt heftig und sie musste an Miranda und den kleinen Drachen in der Bibliothek denken. Vorsichtig fuhr sie mit dem Finger über die beiden Seiten, aber sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Die Drachen waren auf ganz vergilbtem, schwerem, aber sonst nicht außergewöhnlichem Papier gezeichnet. Mira musste leise kichern, als sie an die Worte der kleinen Hexe in der Dachkammer dachte. Sie biss sich auf die Lippen und kam sich ein wenig albern vor. Aber was sollte schon passieren? Schließlich holte sie tief Luft und sagte etwas unsicher:
»Vorstellung der Gedanken Halt,
aus luft’gem Nichts nimm an Gestalt.«
Sie wartete ein wenig, doch nichts geschah. Für einen kurzen Moment war Mira enttäuscht, zugleich aber auch erleichtert. Was für ein Unsinn! Sicher hatte sie sich nur getäuscht, und dem Buch war gar kein Drache entstiegen. Sie überlegte und versuchte sich zu erinnern, was genau Miranda mit dem Buch angestellt hatte, als sie den Spruch aufgesagt hatte. Der Spruch war richtig gewesen. Sie musste etwas anderes vergessen haben. Plötzlich hatte sie eine Idee. Das könnte es sein!
»Vorstellung der Gedanken Halt,
aus luft’gem Nichts nimm an Gestalt.«
Diesmal sprach sie die Worte schon viel sicherer, und als sie geendet hatte, holte sie tief Luft und blies auf die Zeichnung, genau wie Miranda es getan hatte.
Zunächst passierte wieder nichts. Mira konnte hören, wie draußen ein Fensterladen klapperte. Doch dann sah sie, wie die vordere rechte Pfote des weißen Drachen langsam aus dem Papier aufstieg. Mira wagte kaum zu atmen. Die Drachenpfote schüttelte sich hin und her und setzte dann behutsam neben den Seiten auf.
Gleich darauf schob sich der spitze Kopf aus dem Papier, drehte sich verwundert hin und her und zog den schuppigen Körper mit den Flügeln nach, die sich, nachdem der Drache auch seine linke Pfote aus dem Papier befreit hatte, langsam und prachtvoll entfalteten. Der Drache – nun in einem weiß-silbern schimmernden Panzerkleid – schüttelte sich, kletterte schließlich ganz aus dem Buch heraus und blickte sich um. Dann stieg er, ohne Mira weiter zu beachten, über die Seiten und lief geradewegs auf den kleinen, mit Gold eingefassten Standspiegel zu, der auf Miras Tischchen stand. Dort betrachtete er sich ausgiebig. Dabei stieß er ein begeistertes lila Rauchwölkchen aus seinen Nüstern und schien erst jetzt das Mädchen im Zimmer zu bemerken.
»Der Schuppenschwanz glänzt besonders schön, findet Ihr nicht?«
Mira saß da und starrte das seltsame Wesen mit offenem Mund an. Am meisten war sie verwundert über die Stimme des Drachen. Sie klang ganz und gar nicht, wie sie sich eine Drachenstimme vorgestellt hatte (nämlich kreischend und schrill), sondern eher dunkel und sehr angenehm. Sie
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