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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sogleich wie ein kalter, abgestorbener Körperteil erschien – und deutete nach oben. »Ich habe diese Behausung mit Bedacht gewählt. Es gibt Zeiten, in denen Mäßigkeit das größte Misstrauen erregt und ausgerechnet die schillerndsten Gestalten unbemerkt bleiben. In solchen Tagen leben wir gerade.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Weil du in einer Oase des Friedens aufgewachsen bist, Ergil. Die Welt ist zerspalten in die Heuchler, welche sich mit übertriebener Pflichteifrigkeit das Wohlwollen deines Oheims erschleichen wollen, und in jene Bedauernswerten, die das Leben nur als Sanduhr sehen – die Körnchen rinnen viel zu schnell hindurch und die Menschen schuften und feiern und laufen wie aufgescheuchte Hühner hin und her, damit sie über ihr baldiges Ende nicht nachdenken müssen.«
    Ergil erinnerte sich an die verbissenen Gesichter, die er auf der Straße am Fluss gesehen hatte. »Du sprichst vom Stromland? Von der Sorge der Menschen, bald als Nächste unter Wikanders Knute zu geraten?«
    »Ja und nein. Es ist nicht die Angst, die hier alle blind macht; Furcht kann die Sinne im Gegenteil auf geradezu unheimliche Weise schärfen. Eine Kräuterhexe, über die manche lachen und spotten, von der andere dagegen wie von einer Heiligen sprechen, wird deshalb nicht für eine Spionin gehalten, weil sich hier alles nur noch ums Haben und Bekommen dreht. Der Wert eines Menschen wird an den materiellen Gütern gemessen, die er besitzt. Jede Auffälligkeit hält man sofort für eine raffinierte Geschäftsmethode, die allein der Vermehrung des eigenen Wohlstandes dient. Nach dieser Denkweise bin ich eine ärmliche und damit zwangsläufig erfolglose Kräuterfrau, die man entweder belächeln kann oder besser – ich meine, wer wohnt schon in einem Seeigelhaus? – als harmlo s e Irre  ansehen sollte. Niemand vermag sich vorzustellen, dass die einstige Amme Torlunds, eine Dame von Stand und die engste Vertraute der Königin, sich zu einem solch erbärmlichen Dasein herablassen würde. Sei versichert, mein Lieber, in Seltensund wimm e lt es nur so von Wikanders Spionen, aber keiner hat sich bis heute zu mir heraufbequemt.«
    »Woher willst du das wissen? Solche Leute tragen ja kein  Schild um den Hals, auf dem das Wort ›Spion‹ steht.«
    »Doch, tun sie«, widersprach Falgon an Múrias statt. »I n imai ist zwar keine Sirila wie deine Mutter, aber sie hat von ihnen gelernt, Masken und Verstellungen zu durchschauen. Wäre einer von Wikanders Spitzeln zu ihr gekommen, hätte sie es zweifellos bemerkt.«
    Ergil nickte verstehend. Während sich Múria wieder bei ihm einhakte, sah er noch einmal an dem stacheligen Haus hinauf.
    »We r ha t da s gebaut?«
    »Es selbst«, antwortete Múria.
    »Heißt das…?« Ihm verschlug es die Sprache.
    »Ja. Es hat vor langer Zeit gelebt, als Geschöpf des Meeres.«
    »Ein richtiger Seeigel? Hier? Mitten in den Bergen?«
    »Damals gab es den Grotwall noch nicht. Allerdings existierte bereits eine Stadt mit Namen Seltensund an derselben Stelle wie der heutige Ort; das war lange vor unserem Zeitalter. Sie lag am Meer. An ihren Stränden hängten Fischer ihre Netze zum Trocknen auf und Schiffe aus aller Herren Länder landeten im Hafen ihre Waren an. Eines Tages erwachte Magons Eifersucht gegen die Einwohner. Vielleicht erinnerst du dich: Die Brüder Magon und Magos sind Himmelssöhne, deren Namen seit alters unter den Bewohnern Mirads für Leid und Kummer stehen. Ersterer ist für sein aufbrausendes Wesen berüchtigt, Letzterer eher für seine zwar leise, aber kaum weniger zerstörerische Niedertracht. In seinem Jähzorn riss Magon ein riesiges Stück aus dem  Weltenbruch und schleuderte es vor der Stadt ins Meer. Ein Flutwelle, die – glaubt man der Legende – bis zu den Wolken reichte, rollte über Seltensund hinweg. Sie zerschmetterte die Häuser, ertränkte Mensch und Tier. Das Wurfgeschoss prallte mit solcher Wucht au f , dass sich der Boden senkte und andernorts wieder hob. So entstanden nicht nur die zwölf Katarakte, sondern auch die Insel Soodland. Seitdem liegt das Grotwallgebirge zwischen der Stadt und dem Schollenmeer. Die große Welle jedoch hatte Millionen von Mee r eslebewesen weit ins Land getragen. Bis heute kann man ihre Überreste finden.«
    »S o wi e diese n Seeigel?«
    »Du sagst es. Ich bin übrigens nicht seine erste Bewohnerin. Angeblich wurde Harkon Hakennase darin geboren.«
    »Der berühmte Forscher und Abenteurer?«
    » J a. Er soll als junger Bursche mit

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