Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Norden.
»Seltensund liegt dort, eine Million elender Windungen unter uns.«
»Nicht die Stadt suchen wir, sondern etwas anderes… jemand anderen, um genau zu sein. Ihr habt vie l leicht von der Heilerin Inimai gehört…?« Der Fremde kleidete seine Frage in einen Ton der Unfertigkeit, die im Bewusstsein des Hörers unwillkürlich Gedankenbilder entstehen ließ.
»Natürlich«, kam prompt die Antwort. »Wir waren gerade bei der Kräuterhexe. S ie hat meinem Weib einen Tee verschrieben. Ich hatte mir eigentlich mehr erhofft.«
»Nein, was für ein Zufall!«, freute sich der Weißschopf.
»Sicher wird es Eurer Frau bald besser gehen. Man berichtet sich ja wahre Wunderdinge von dieser Inimai.«
»Ic h glaub ’s erst, wenn mein Weib wieder gesund ist.« Der verdrießliche Blick des Gemahls lag jetzt auf dem schillernden Eisvogel, der auf der Schulter des jüngsten der drei Fremden hockte.
»Welches Leiden quält sie denn?«, erkundigte sich der Alte.
»Eines, das uns Männer n frem d ist.«
»Verstehe. Nun, wir würden auch gerne die Dienste dieser… Kräuterfrau in Anspruch nehmen. Wie können wir sie denn finden?«
Der Mann zeigte mit der Hand nach Süden. »Nach einer halben Meile seht ihr einen Pfad, der nach rechts abzweigt. Es geht steil nach oben. Weicht nicht davon ab. Dann kommt ihr direkt zu ihrem Stachelhaus.«
Überraschend schnell bestiegen die drei Fremden ihre Pferde. Bevor der Weißschopf seinen Rappen in die bedeutete Richtung lenkte, sagte er: »Vielen Dank, Nachbar. Ihr habt uns seh r geholfen.«
»Ihr scheint es ja sehr eilig zu haben. Dabei seht ihr gar nicht krank aus. Was fehlt euch denn?«
Der Halbwüchsige mit dem Eisvogel drehte sich noch einmal um und erwiderte: »Wir haben nicht alle Sinne beieinander.«
Die drei Fremden ließen einen verwirrten Mann zurück.
Der steile Anstieg kostete sie die letzte Kraft. Tagelanger Mangel an Bewegung und abwechslungsreicher Nahrung hatte alle geschwächt, außer das vermeintlich zarteste Mitglied der Gemeinschaft – Schekira war fast ebenso unverwüstlich wie ihre gute Laune. Weil auch die Pferde ihre Reiter bald nicht mehr tragen konnten, mussten sie an den Zügeln zum
»Stachelhaus der Kräuterhexe« hinaufgeführt werden.
Auf dem schmalen, aber unübersehbar häufig benutzten Trampelpfad durchquerten sie einen dichten Wald. Trotz körperlicher Erschöpfung genoss Ergil dieses Stück üppig wuchernden Lebens, das ihn an sein Zuhause im Großen Alten erinnerte. Nach knapp zwei Stunden und vermutlich ebenso viel Maß vergossenen Schweißes traten die drei Wanderer wieder ins Freie. In greifbarer Nähe, so schien es, ragte über ihren Köpfen ein kahler Felskegel empor und wie eine extravagante Krone auf dem Haupt eines versteinerten Riesen saß obenauf die Seeigelwarte.
Hunderte dünner Stacheln ließen sie wie eine Skulptur erscheinen, mit der ein Künstler die Sonne samt Strahlen hatte darstellen wollen. Die Dornen waren sehr lang, einige hätten die an den Polen abgeflachte Kuppel glatt durchbohren können. Unwillkürlich beschleunigte Ergil seinen Schritt. Er wollte dieses seltsame Haus aus der Nähe sehen.
Die klare Luft und das goldgelbe Abendlicht täuschten über die wahren Entfernungen hinweg. Die Gefährten mussten am Ende doch noch eine Achtelmeile weit den Berg erklimmen. Es war das steilste Stück. Stiefel und Hufe schlurften über spärlichen Grasbewuchs und nackten Stein. Immer näher kam die eisenbeschlagene Eichenholztür, die am Fuß des Kegels auf sie wartete. Und sich unvermittelt öffnete.
Eine Frau in einem nachtblauen, knöchellangen Kleid trat heraus, deren Aussehen zumindest Ergil überraschte. Er hatte während seiner viereinhalbwöchigen Reise nun einiges über Múria erfahren. Sie war nicht nur seine und Twikus’ Amme gewesen, sondern auch die von Torlund, seinem Vater. Also musste sie – nach der Vorstellung des Sechzehnjährigen – uralt sein. Eine Greisin. Gebeugt, mit Stock, dünnem, schlohweißem Haar und einer Stimme, so brüchig wie trockenes Laub. Ergil hatte sich gründlich getäuscht.
Die Gestalt, die den Ankömmlingen mit ebenso würdevoll wie anmutig sc h wingenden Schritten entgegenkam, widerlegte so ziemlich jede seiner Annahmen. Ja, für ihn, der auf diesem Gebiet wenig Erfahrung besaß, war Múria die vollkommenste aller Frauen. Konnte es einen Mann geben, der nicht von Sehwindelgefühlen erfasst wurde, wenn er ihr, so wie er jetzt, unvermittelt gegenüberstand? Ihr hoher
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