Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Unbehagen sah er, wie das umliegende Land sich mit einer schwarzen Reifschicht überzog. Wo sich das Feuer in die Wolken streckte, blieben Rußflöckchen zurück, die sich bald vereinigten und dann sogar wie nachtfarbene Tinte auseinander zu fließen begannen. So wurde die Lohe zu einem Pinsel, der mit grausamer Beharrlichkeit das Licht des Himmels löschte.
Dunkelheit senkte sich über das Land. Selbst das Meer verschwand unter kohlenfinsterem Eis. Einzig die Sooderburg ragte noch wie ein graues Ungetüm aus der allgegenwärtigen Schwärze hervor.
Und dann spürte Twikus plötzlich das kalte Ziehen.
Also besaß er doch einen Körper, der für Qualen durchaus empfänglich war. Verzweifelt kämpfte er gegen das Reißen an. Er hatte sich zu lange von dem unwirklichen Anblick fesseln lassen. Jetzt war es zu spät. Unsichtbare eisige Klauen hatten seine Füße bereits fest im Griff. Während die furchtbare Kälte stetig höher stieg, sank er Elle für Elle immer tiefer – direkt auf die Spitze des bleichen Knochenturms zu. Ein Fähnchen mit dem Wappen des Großkönigs hing dort: ein schwarzer Drache auf blutrotem Grund. Der Wimpel schien im Wind zu flattern und bewegte sich dennoch nicht. Er war steif gefroren.
Inzwischen hatte die Eiseskälte Twikus’ Eingeweide erreicht. Er wollte schreien, brachte aber keinen einzigen Laut hervor.
Aus dem Sinken war ein Sturz geworden. Der speerförmige Fahnenmast flog auf ihn zu. Würde die goldene Spitze sein Herz durchbohren oder sollte e s schon vorher aufhören zu schlagen, erstarrt in der dunklen Kälte?
Nein! Er musste sich wehren. Wer immer ihn hier zum Fliegen verdammt hatte, sollte nicht über ihn triumphieren. Twikus sammelte seine letzte Kraft. Die Mastspitze raste jetzt auf ihn zu. Er wusste, sie zielte direkt auf sein Herz. Mit jeder Faser, die noch nicht erstarrt war, stemmte er sich gegen das scheinbar Unabwendbare an…
Und saß plötzlich auf seinem Strohsack.
Keuchend blickte er sich um. Das Mondlicht besprenkelte noch immer den Flickenteppich. Von Schekira fehlte jede Spur, Falgon schlief wie ein Kind in Mutters Schoß und Dormund musste dem Geräusch nach an einer Rotgranne sägen. Ansonsten herrschte Frieden im Viertelzimmer. Sollte er nach unten gehen, Múria wecken und ihr von dem Traum erzählen? Einen Moment lang wollte er dem Wunsch nachgeben. Er würde sie ganz für sich alleine haben, eine stille Stunde oder zwei in ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit baden…
Plötzlich überfiel ihn brennende Scham. Was dachte er sich überhaupt? Die He r rin der Seeigelwarte war die vollkommenste aller Frauen. Dem Wesen nach eine Königin. Unter ihrem Blick schmolzen gestandene Recken dahin. Bestimmt hatte sie Besseres zu tun, als ihren Schönheitsschlaf einem Halbwüchsigen und seinen Alpträumen zu opfern.
Er atmete schwer aus und ließ sich wieder auf die raschelnde Unterlage sinken.
Twikus reckte sich, nachdem er von den Schlafgemächern hinabgestiegen und ins halbrunde Zimmer getreten war; die Röhre mit der Wendeltreppe hatte sich für derart raumgreifende Übungen nicht geeignet. Múria war schon auf. Summend stand sie an der Feuerstelle und beschäftigte sich mit einem Kessel.
»Das Frühstück?«, fragte er.
Sie strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und lächelte ihn an. »Nur Tee. Hast du Hunger?«
»Ich könnte einen Bären verschlingen. Wo ist eigentlich Schekira? Ich habe sie seit dem Zubettgehen nicht mehr gesehen.«
»Sie ist gestern bei mir geblieben und wir haben noch ein Weilchen miteinander geplaudert, bis sie in meinem Stickkörbchen eingeschlafen ist. Jetzt schwirrt sie schon wieder draußen herum, um mir einen Gefallen zu tun.«
»Hast du sie etwa zum Holzhacken geschickt?« Twikus hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Langsam, so als ließe er sich von einer Strömung treiben, bewegte er sich durchs Halbrundzimmer.
Ohne von ihrem Kräutertrunk aufzublicken, erwiderte Múria:
»Warte ab, bis deine Freunde erwacht sind. Wir müssen heute noch eine Reihe wichtiger Entscheidungen treffen. Du bist übrigens für einen ausgelaugten Flussfahrer ziemlich früh auf den Beinen. Alpträume können einem den Schlaf rauben, nicht wahr?«
»Hast du das erraten oder…?«
»Wer weiß.« Lächelnd streute sie eine Prise braunen Pulvers in den Tee.
Jetzt hatte Twikus die Mitte des Raumes erreicht und bewunderte Múrias Anmut, die selbst in den kleinsten Gesten zu erkennen war. »Ich hätte sowieso nicht länger
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