Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
»Sollen diese Männer sterben, nur weil du zu stolz bist, deinem Bruder den Vortritt zu lassen?«
Während die Wolken der Fiederfische sich um das Schiff herum verteilten, focht Twikus mit seiner Meisterin einen unsichtbaren Kampf. Plötzlich senkte er den Blick, ließ das Schwert erschlaffen und band es sich um den Leib.
Als der Prinz wieder das Kinn anhob, war der Groll aus seinem Gesicht verschwunden. Mit verzagter Stimme sagte er:
»Ich bin Ergil. Was muss ich tun, Inimai?«
Sie a t mete erleichtert aus und streckte den Arm nach ihm aus.
»Nim m mein e Hand.«
Sie führte ihn an die Reling. Weniger als einhundert Fuß in schräger Richtung nach oben pendelten sechs oder sieben Flederfischwolken. Aber nicht sie wollte Múria ihrem Schüler zei g en.
»Blicke nach Süden.«
»Wa s is t da?«
»Tu einfach, was ich dir sage.« Er gehorchte.
»Das ist unser Kurs. Wir können entweder hier sterben oder in einer Stunde zehn Meilen weiter flussabwärts sein.«
»Aber…«
»Still, Ergil! Schließe die Augen.«
Das fiel ihm angesichts der knatternden Schwärme nicht leicht, aber er schaffte es.
Im nächsten Moment umfing ihn eine warme Geborgenheit, die ihm nur allzu vertraut war. Ganz ähnlich hatte er sich in Seltensund gefühlt, als seine Amme ihn unter ihrem Mantel verbarg. Aber jetzt sah er keine Bilder aus der Kindheit. Er hörte nur Múrias Stimme, die leise und sanft und trotzdem voller Kraft war.
»Denke an das Wasser von heute Nachmittag. Wie du es mit deinem inneren Sinn erfühlt hast. Wie du es in einzelne Tröpfchen zerle g t hast. Wie du den Willen jedes einzelnen erforscht hast. Du konntest spüren, wohin sie sich im nächsten Moment wenden werden. Und genau dorthin hast du deine Wehre gesetzt, damit sie im Strom der Zeit ihre Richtung ändern.«
Das Dröhnen der Angreifer wurde lauter.
Falgon drängte sich zwischen die ineinander verschlungenen Geister. »Múria…«
»Still!«, sagte sie rasch, nur wenig lauter, um sogleich wieder in den ruhigen Ton zurückzufallen. »Jetzt stellen wir uns vor, der Fluss wäre das Rinnsal aus dem Becher.«
Ergil schüttelte den Kopf. Der Groterspund war ein wenig mehr als ein Schluck Wasser.
»Bitte!«, drängte Múria.
Also gut, dachte er. Der Fluss ist in meinem Becher. Ich kippe ihn um. Er fließt über das Deck der Ödnis…
»Gut, aber du musst dich noch mehr anstrengen«, sagte Múria.
Das vertraute Glühen erschien. Hinter seinen Augenlidern wurde das Deck der Meerschaumkönigin durchscheinend und das gewundene Band des Groterspunds erschien vor ihm, leuchtend wie ein grüner Lavafluss.
»Hast du es?«, fragte die Meisterin.
»Ja. Es kommt«, antwortete ihr Schüler. Wie aus weiter Ferne hörte er eine Stimme, die rief: »Es ist zu spät! Gleich stoße n si e herab!«
»Und nun das Schiff!«, drängte Múria.
»Wa s is t damit?«
»Nim m es!«
»Wi e sol l ic h da s tun?«
»So wie du Himmelsfeuer ergreifst. Lass deinen Willen es durchdringen, bis es zu leuchten beginnt.«
»Aber…«
»Vertrau mir. Ich helfe dir.«
Das Schiff umgreifen. Er ließ seinen Sinn über die Planken wandern, die Masten emporklettern, durch die Oberlichter ins Innere eindringen. J a , er konnte es spüren. Und zugleich fühlte er Múrias Kraft wie eine stützende Hand. Jetzt wusste er, was sie von ihm wollte! Aber würde er es auch tun können? Er kniff die Augen noch fester zusammen und ohne sich dessen bewusst zu sein, quetschte er Múrias Finger.
Sie sagte nur: »Ja! Weiter so!«
Aber die Welt außerhalb ihrer umschlungenen Geister folgte anderen Zielen.
Mehr als zwölf Dutzend Fiederfische hatten ihre Positionen um das Schiff bezogen. Wie eine große, dunkle Glocke schwebten sie jetzt zornig brummend über der Seskwin.
»Das ist unser Ende«, flüsterte Dormund.
Falgon reckte sein Schwert hoch und rief: »Für das Licht, Männer! Schenkt ihnen nichts.«
Im nächsten Moment zog sich die Glocke aus Fischleibern zusammen. Sämtliche Tiere rasten auf das Hä u flein Verzweifelter zu, die nichts weiter tun konnten, als den furchtbaren Gebissen ein paar Schwerter, Messer und Knüppel entgegenzustrecken – und einen Schmiedehammer.
Über den Köpfen der Verteidiger krachte es, als einige Fische die Rah vom Groß - Bramse g el abrissen. Die Männer schrien wie aus einer Kehle vor Entschlossenheit, manche auch aus Angst.
Plötzlich war die Meerschaumkönigin verschwunden.
Ihrer schon sicher geglaubten Beute beraubt, reagierten die
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