Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
zuckte müde die Achseln. »Ich we i ß nicht.«
Múria streichelte ihm mit der Rückseite ihrer Finger die Wange. »Ich bin davon überzeugt, du wirst das Richtige tun. Vergiss nur nie, dass ihr zwei euch nicht bekriegen dürft, sondern zusammenarbeiten müsst, wenn ihr eure Bestimmung erfüllen wollt. Seid geduldig und nachsichtig miteinander. Und verliert die Hoffnung nicht. Die Seele von Menschen und Sirilim ist komplizierter, als wir beide es uns vorstellen können. Vielleicht finden wir noch einen anderen Weg, euch eure Gaben zu erschließen. Lasst euch nicht ins Bodenlose fallen. Versprichst du mir das?«
Er hatte sie verwundert angesehen. Sie konnte nichts von der seltsamen Vision wissen, die er letzte Nacht just in dem Moment gesehen hatte, als Twikus ihn übermannte. Nicht fallen lassen? Wie mein t e sie das? Ergil war zu müde gewesen, um sie danach zu fragen. Also hatte er genickt.
»Ja, ich verspreche es.«
Jetzt, einige Stunden später, dachte er immer noch über ihre Worte nach. Lasst euch nicht ins Bodenlose fallen. Das Bild des abstürzenden Ich blitzte durch seinen Geist und er schauderte.
Anfangs war die Ödnis gar nicht so öde. Gras, so weit das Auge reichte. Zwei Tage nach dem Überfall der Fiederfische verwandelte sie sich jedoch in eine Stein- und Geröllwüste, deren einziger sichtbarer Bewuchs aus Dornensträuchern bestand.
Nach weiteren zwei Tagen änderte sich das Bild der Landschaft abermals. Büsche und Bäume schossen gleichsam überall aus dem Boden. Das Klima wurde warm und feucht. Bald glitt die Meerschaumkönigin durch einen Urwald aus üppigen Bäumen, deren Stämme mit Moos bewachsen waren oder an deren Ästen Flechten wie lange graugrüne Bärte hingen. Aus schwindelnder Höhe spannten die Riesen Luftwurzeln zum Boden, mit denen sich die wieder instand gesetzte Takelage der Seskwi n nicht messen konnte.
Unablässig ertönten aus dem undurchdringlichen Grün die Schreie von Vögeln und Affen. Andere Laute waren so Furcht einflößend, dass jeder an Bord nur hoffte, ihre Verursacher blieben in ihren Verstecken. Das Stimmengewirr klang seltsam dumpf, fast ohne Widerhall.
So unübersichtlich die Flora und Fauna des Urwalds war, so berechenbar erschien die Witterung. Jeden Tag, ein bis zwei Stunden vor Sonnenuntergang, öffneten sich die Schleusen des Himmels. Dann fielen für kurze Zeit dicke schwere Tropfen, schimmernden Perlenschnüren gleich, senkrecht aus den Wolken herab. Vor Einbruch der Dunkelheit hörte der Regen, meist schlagartig, wieder auf. In der Nacht kühlte sich die schwüle Luft nur wenig ab. Und an jedem neuen Tag lag ein Dunstschleier auf dem Fluss, der sich bis unter die Bäume erstreckte. Im Zwielicht des Morgens war es unmöglich, die Grenze zwischen festem Land und Wasser auszumachen. Zu dieser Zeit ließ Kapitän Bombo ununterbrochen die Tiefe ausloten, um ein Auflaufen zu vermeiden.
»Wie weit ist es noch bis zum Sternenspiegel?«, fragte Ergil die Herrin der Seeigelwarte am frühen Morgen des vierten Tages der Dschungelfahrt. Der Wind hatte nach Nordost gedreht und trieb die Meerschaumkönigin jetzt schneller denn je vor sich her. Auf der Suche nach ihrem Schüler war Múria wieder einmal am Bug bei der Nixe fündig geworden, jener Stelle an Bord also, die von seinem Unterrichtsplatz auf dem Achterdeck am weitesten entfernt lag.
»Bald werden wir da sein, aber ob in drei oder vier Tagen, das kann ich dir nicht sagen. Ich war ja noch nie dort.«
Sein Blick wanderte wieder zum wabernden Dunst auf dem Fluss hinaus.
»Dich bedrückt doch irgendetwas«, sagte Múria.
Er antwortete nicht.
»Immer noch Ärger mit deinem Bruder?«
»Nein. Wir haben uns ausgesprochen. Aber er z ieht es vor, in seinem Schmollwinkel zu bleiben. Vorerst jedenfalls.«
»So lange ihr nicht beide eurem Körper entsagt, ist dagegen nichts einzuwenden.«
Ergil sah sie erschrocken an.
»Das war nur ein Scherz, mein Lieber.« Múria lächelte.
»Jetzt lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Was fehlt dir? Geht es um den armen Grinsel, der gestern gestorben ist?« Sie meinte den beim Überfall der Fiederfische schwer verletzten Seemann, um dessen Leben sie sieben Tage vergeblich gerungen hatte.
»Natürlich geht mir Grinsels Tod nahe, aber…« Ergil schüttelte den Kopf.
»Aber?«
»Was ist, wenn wir Olam nicht finden?«
»Wie kommst du darauf?« Ihre Stimme klang mit einem Mal argwöhnisch.
»Permund meinte, es gebe den Weisen vom Sternenspiegel ga r
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