Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Rudergänger auf die Finger schauen.« Er hob die Hand zum Gruß und hinkte, auf seine provisorische Krücke gestützt, in Richtung Poop davon.
Während Ergil dem schmächtigen Steuermann nachblickte, verkündete das Bimmeln der Schiffsglocke den Anbruch der siebten Stunde nach Sonnenaufgang. Er drehte sich um und atmete tief durch. Sein Blick kehrte zu der Nixe zurück. Die barbusige Schönheit war eine schweigsame Gesellschafterin.
Im Gegensatz zu Permund, dachte Ergil. Beim Herrn der himmlischen Lichter! Hätte der mäkelige Steuermann nicht einfach gehen können, nachdem er sich für seine Rettung bedankt hatte? Schon jetzt merkte Ergil, wie dessen Äußerungen über den Sternenspiegel sich gleich einer ätzenden Flüssigkeit in sein Bewusstsein fraßen: keine Insel, kein Weiser, kein Olam… Zweifel nagt e n am ohnehin schwächelnden Selbstbewusstsein des Prinzen. Wie Permund ihn angesehen hatte, als er fast beiläufig sagte, kein Schwächling werde Wikander vom Thron stoßen können! Er war tatsächlich so dreist gewesen und hatte ihn, Torlunds Sohn, einen Schwächling genannt!
Die »Dankesbezeigung« des Steuermanns hätte einem Ergil in blendender Verfassung nichts ausgemacht, aber den von Schuldgefühlen geplagten Prinzen drohten sie niederzureißen. Im Wettstreit der Selbstvorwürfe hatte nämlich auch er einiges z u bieten und er spürte unterschwellig, dass Twikus Ähnliches fühlte, wenn auch aus anderen Gründen. Der Jäger war seit seinem Abgang letzte Nacht nicht wieder aufgetaucht. Zugegeben, Twikus’ Pfeile und das gläserne Schwert hatten manchem Seemann das Leben ge r ettet; aber erst nachdem sie von ihm in eine fast aussichtslose Lage gebracht worden waren. Er hatte – ob aus Eifersucht, verletztem Stolz oder warum auch immer – seinem Bruder nicht das Ruder überlassen wollen. Bis es fast zu spät gewesen war. Jetzt schmollte er.
Nach Meinung vieler Männer an Bord war Ergil der eigentliche Held des Tages. Aber er fühlte sich nicht so, schon gar nicht jetzt, nachdem Permund ihn einen Schwächling genannt hatte. Daran konnten auch Múrias Erklärungen nichts ändern. Sie war am Morgen kurz aufs Oberdeck gekommen, um frische Luft zu schnappen. Er habe, sagte sie zu ihm, die Seskwin in einen alternativen Zweig des Zeitengeästs geschoben, eine Stunde weit in die Zukunft. Sie sei dabei nur seine Führerin gewesen, eine Wegbereiterin d es Geistes, im Grunde nicht mehr als eine Stütze.
»Verstehst du jetzt, wozu unsere ›Fingerübungen‹ nützen?«, hatte sie Ergil gefragt.
Er saß zu dieser Zeit noch auf seinem Diwan aus zusammengeklaubten Tauen, völlig erschöpft von den Anstrengungen der letzten Nacht, und verzog den Mund. »Ich bin ja sowieso zu alt für diese Spielchen.«
»Wenn du in Selbstmitleid zerfließt, dann hilft das niemandem, Ergil. Du magst zu alt sein, um allein deine Kräfte zu lenken und zu beherrschen. Aber ich war überrascht, welche Macht in dir schlummert. Nimm das als Lob. Und Ansporn.«
»Ansporn wozu? Soll ich für immer an deiner Hand durchs Leben gehen, damit du mich… lenken kannst? Ein feiner König wäre das, der dauernd am Rockzipfel seiner Amme hängt. Ich will auf eigenen Beine n stehen , Múria.«
Obwohl die Worte mit dem Klang der Bitterkeit aus Ergil hervorgebrochen waren, hatte Múria sanft und besonnen geantwortet: »Und das wirst du, mein Lieber. Denke an Permunds Beispiel. Sein verletztes Bein kann ihn nicht tragen. Deshalb benutzt er fürs Erste eine Krücke. Ist er dadurch wieder zum unmündigen Knaben geworden? – Nein. Vermag er mit einem Mal keine eigenen Entscheidungen mehr zu treffen? – Natürlich kann er das. Genauso möchte ich dir eine Stütze sein, die dir auf deinem Weg Halt gibt. Aber die Richtung bestimmst ganz allein du.«
Ergil hatte einige Augenblicke lang vor sich hin gebrütet. Er schätzte Múria, nein, er liebte sie. Aber so richtig überzeugte ihr Angebot ihn nicht.
Sie musste ihm wohl angesehen haben, was ihn bewegte, denn nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: »Du und dein Bruder, ihr müsst euch wieder versöhnen. Was Twikus gestern Abend mit dir gemacht hat, war nicht in Ordnung. Aber ich bin überzeugt, er hat es aus bester Absicht getan.«
»Das rede ich mir schon eine g anze Weile ein. Ich habe sogar Pfeilspitzen für ihn gesammelt.« Ergil griff in die Hosentasche und zeigte Múria einen der Flederfischzähne.
Sie nickte anerkennend. »Eine Geste des Großmuts verfehlt selten ihre Wirkung.«
Er
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