Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
abschätzen konnte, ein vollkommener Kubus, der von einer halbkugelförmigen Kuppel überragt wurde. Abgesehen von der irisierenden Fassade war Olams Haus – so er denn darin wohnte – völlig schmucklos: keine Erker, Säulen, Simse, Friese, nicht einmal – und das verwunderte die Betrachter – Fenster oder Türen ließen sich ausmachen.
»Wie kommt man da hinein?«, fasste Dormund auch schon seine Gedanken in Worte. Praktische Fragen interessierten ihn gewöhnlich am meisten.
»Der Eingang dürfte auf der anderen Seite liegen«, mutmaßte Falgon.
»Wenn der Weise vom Sternenspieg e l nie ausgeht, dann gibt es vielleicht gar keinen«, sagte Bombo und erntete prompt einige betroffene Blicke.
Múria blieb ungerührt. »Das steht nicht zu befürchten, lieber Kapitän. Als Jazzar - siril mit den Seinen ins Herzland kam, entdeckten sie auch diese Insel. Die Lieder, die von diesem Ereignis erzählen, sind die ältesten Überlieferungen, in denen Olams Name erwähnt wird. Es heißt, der König sei ›von Neumond zu Neumond dessen Gast gewesen‹.«
Jonnin kratzte sich am Hinterkopf. »Also muss er ja irgendwie da hineingekomme n sein.«
»Oder Olam hinaus«, setzte Ergil hinzu.
»Lasst uns zur anderen Seite herumgehen und da nachschauen«, schlug Falgon vor.
»Nein«, widersprach Ergil. Beim Betrachten des flirrenden Würfels hatte sich ein Gefühl eingestellt, das ihm aus dem Großen Alten sehr vertraut war. »Ich glaube, der Eingang liegt gena u vo r uns.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er auf das Gebäude zu. Nach vielleicht einhundert Schritten bestätigte sich seine Ahnung und kurz darauf konnten es alle sehen. Die Männer staunten. Múria nickte lächelnd.
Schekira rief verzückt: »Schmetterlinge! Die ganze Wand besteht aus schillernd bunten Schmetterlingen!«
Die Gefährten blieben fünf oder sechs Schritte vor dem Haus stehen und schüttelten ungläubig die Köpfe. Vor ihren Au g en flatterten tausende, womöglich sogar Millionen von Faltern, die meisten so groß wie zwei aneinander gelegte Hände. Ihr Flügelschlag erzeugte ein raschelndes Geräusch, als wirbelte trockenes Laub im Wind. Sie saßen nicht etwa a n einer Wand, sondern sie w aren die Mauer. Aus der Nähe öffnete sich hier und da, kurz wie ein Wimpernschlag, eine Lücke, durch die man ins Innere des Palastes blicken konnte.
Keine Frage, dachte Ergil, dieses lebendige Gebilde war mehr als ein Haus. Olam wohnt in einem Palast der S chmetterlinge.
Wenn ich mir diese Flattermänner so ansehe, beschleicht mich ein komisches Gefühl. Hast du eine Ahnung, wie wir da reinkommen?, erkundigte sich Twikus. In der vergangenen Stunde war er still geblieben, verfolgte aber nichtsdestotrotz gespannt jeden von Ergils Schritten.
Du etwa nicht?, erwiderte der.
Jetzt lass bloß nicht den großen Schmetterlingskenner raushängen!
Ich erinnere mich dunkel, dass du mich immer gehänselt hast, weil ich die Insekten lieber beobachtete oder mich mit ihnen austauschte, als sie zu jagen.
Ist ja schon gut. Meinetwegen red ihnen gut zu, aber sei vorsichtig! Wie mir scheint, sind diese Falter mehr als nur schön.
Da hast du allerdings Recht. Sieh mir einfach zu, Bruderherz, vielleicht kannst du ja noch etwas lernen.
Während seine Freunde immer noch darüber nachdachten, wie man die Tiere dazu bewegen konnte, einen Durchgang freizugeben, sagte der Prinz: »Folgt mir!«
Für sie musste es so aussehen, als liefe er einfach auf die Wand zu. Falgon – vielleicht auch Múria – moch t e ahnen, was er vorhatte. Ergil kannte sich mit Faltern aus und jetzt kam ihm dieses besondere Verhältnis zu den zarten Geschöpfen zugute. Er konnte mit ihnen sprechen. Nicht gerade so, wie zwei Menschen miteinander reden, aber sie verstanden einander trotzdem. Ohne ein Wort. Sein Geist brauchte sie nur ganz sanft zu berühren.
Und die Schmetterlinge öffneten ihm den Palast.
»Kommt!«, sagte er, als er hinter sich kleine Rufe des Erstaunens hörte. Er wusste, diese Pforte würde sich schnell wieder schließen. Obwohl ihm der Anblick im Innern fast den Atem raubte, drehte er sich rasch zu den Freunden um und warnte sie: »Gebt Acht, dass ihr keines der Tiere berührt!«
»Wieso?«, fragte Bombo. Die Nase des kleinen Kapitäns näherte sich gerade vorwitzig einem der Tür p fostenfalter.
»Weil sie giftig sind«, antwortete Ergil.
Der Kommandant zuckte heftig zurück. Dabei geriet er ins Stolpern und wäre vermutlich gegen den gegenüberliegenden
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