Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Schmetterlingspfosten gefallen, wenn Dormund ihn nicht aufgefangen hätte.
»Keine Ursache«, sagte der Schmied, ehe der andere zu Wort kommen konnte.
Jonnin trat als Letzter ein. Hinter ihm schloss sich raschelnd der Durchgang wie ein von beiden Seiten nach innen fallender Vorhang.
Endlich durfte sich Ergil – langsam voranschreitend und gefolgt von den Gefährten – ganz seinem Staunen hingeben.
Der Palast der Schmetterlinge bestand aus einem einzigen gigantischen Raum. Eigentlich war er nur eine flirrende Hülle, ein lebendiges Zelt, das sich über einem nahtlosen weißen Steinboden spannte. Der Grund war glatt, aber nicht poliert. Ergil sah darin glitzernde Körnchen sowie milchige Schlieren und überlegte, ob es einen Alabasterstein dieser Größe geben konnte. Unter dem unablässigen Geraschel wandte er den Blick nach oben.
Die Halle hatte, was kaum verwunderte, einen quadratischen Grundriss. Er schätzte ihre Höhe bis unter den Scheitelpunkt der Kuppel auf ungefähr einhundertfünfzig Fuß. Die Seitenlänge des Kubus dürfte demzufolge etwa einhundert Fuß betragen. Es gab keine Lampen, sondern so, wie die Schmetterlinge mit ihrem Geflatter Lücken öffneten und wieder schlossen, so drang auch das gedämpfte orangerote Licht herein.
»Anscheinend hat man uns bereits erwartet«, sagte Múria. Damit sprach sie eine weitere Überraschung an, die für alle unübersehbar in der Mitte der Halle Gestalt angenommen hatte, dort, wo man mittlerweile angelangt war.
Da stand auf einem karmesinfarbenen Teppich eine niedrige, kreisrunde, gedeckte Tafel, umringt von sieben samtenen Sitzkissen.
Der Durchmesser des Tisches betrug wohl an die zehn Fuß. Er bestand aus rötlich braunem, poliertem Holz und spiegelte das Geflirre der Wände und Decke wider. Sein Zentrum beherrschten silberne Platten mit allerlei Früchten und dampfende Schüsseln, aus denen ein verlockender Duft aufstieg. Im R andbereich fanden sich Becher, Näpfe, Teller, Messer und Löffel für acht Personen. Eine Garnitur war, ebenso wie das davor liegende Sitzkissen, winzig klein. Ideal für eine Elvenprinzessin.
Am Rande des Gesichtsfeldes bemerkte Ergil, wie der junge Seemann auf jeden in der Gruppe deutete und mit den Lippen ihre Namen aufzählte: Ergil und Twikus, Schekira, Múria, Falgon, Dormund, Bombo und Jonnin.
»Vergiss nicht, unseren Gastgeber mitzuzählen«, sagte der Prinz, weil er die Gedanken seines Gefährten erriet.
W ä hrend Dormunds Kopf sich unentwegt hin und her bewegte, murmelte er: »Das Esszimmer ist ja ganz geräumig, aber ich möchte wissen, wo dieser Olam schläft.«
»Das hat sich schon mancher gefragt«, hallte eine Stimme durch den Saal. Sie klang weder hoch noch tief, war weich und doch männlich, voll und trotzdem nicht laut. Und sie gehörte eindeutig niemandem der am Tisch Versammelten. Alle wandten sich um.
Im ersten Moment erkannte kaum einer etwas. Es war, als blicke man direkt in die Morgensonne. Von den Gefähr ten unbemerkt hatte sich die Wand an einer anderen Stelle geöffnet und eine Gestalt war eingetreten, die in diesem Moment nur als dunkler Schattenriss auszumachen war. Dann aber schloss sich die lebendige Pforte und sobald die Augen sich an die geänderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, konnte jeder den Herrn des Schmetterlingspalastes deutlich sehen. Zweifel über seine Identität ließ er gar nicht erst aufkommen, denn sogleich setzte er seine Begrüßung fort.
»Seid willkommen in meinem Zelt! Ich hatte schon befürchtet, ihr würdet es nicht schaffen.«
Schon in diesen ersten Momenten wurde Ergil klar, dass der Bewohner dieses lebendigen Hauses kein gewöhnlicher Mensch sein konnte. Allein die beherrschte Anmut, mit der er sich auf die Besucher zubewegte, war höchst bemerkenswert. Seine Gelenke schienen in vollkommener Harmonie miteinander zu sein. Nichts wirkte abgehackt oder unausgewogen. Es war ein fließendes Dahinschreiten.
Auch sein Körper ließ keinen Makel erkennen. Der Herr des »Zeltes« war von schlanker, hoch gewachsener Gestalt, hatte olivfarbene Haut und kurzes, auffallend dichtes, grau meliertes Haar, das einmal schwarz gewesen sein musste. Seine dunkelgrüne Kleidung schimmerte wie Wildseide, kam ansonsten aber ohne Verzierungen aus. Sie bestand aus einer weiten, bis zu den Knöcheln reichenden Hose und einer ärmellosen Tunika. Die nackten Arme des Gastgebers waren nicht übermäßig muskulös, sondern eher sehnig. Für Ergil glich diese Begegnung mehr
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