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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sah er ein graues Gebilde am Fels. Es glich einer übergroßen Spinnwebe, die sich auf eine Weise bewegte, die mit den Fallwinden in der Klamm alle i n nicht zu erklären war. Er versuchte seinen Gedanken Festigkeit zu geben, als er hinzufügte: Wenn’s brenzlig wird, können wir ja immer noch tauschen.
    Bist du neuerdings unter die Helden gegangen?
    Klar. Seit ich Kawuzz geschrumpft habe.
    Das war Gemeinschaftsarbeit.
    Ja, unter meiner Federführung. Aber wenn’s dich beruhigt: Ich zittere immer noch wie Espenlaub. Nur ist meine Neugier stärker als die Angst.
    Mir wäre es lieber, du bleibst bei deinen Schmetterlingen. Diese schleichenden Netze sind mir nicht geheuer.
    Hört, hört! Und das sagt der große Jäger?
    Bei denen weiß man ja nicht mal, wohin man zielen soll.
    Auf den Vitex natürlich.
    Wohin?
    Hast wieder mal im Unterricht nicht aufgepasst, was? Dabei hat uns Múria alles heruntergeleiert, was sie von diesem Krogensen über die Netzlinge weiß.
    Hirgan Krogensen war einer der angesehensten Naturforscher von Mirad, fast so berühmt wie Harkon Hakennase. Viele Jahre seines Lebens hatte er den Netzlingen gewidmet und ganze Bücher mit seinem über sie gesammelten Wissen gefü llt. Wenn man nicht den Schauergeschichten mündlicher Überlieferungen, sondern dem Gelehrten glaubte, dann waren die intelligenten Netzwesen gar nicht so gefährlich, wie angenommen wurde. Üblicherweise spannten sie sich zwischen Bäumen oder Felsspalten auf, um Wirtstiere
    »einzufangen«. Sobald einem von ihnen eins ins Netz gegangen war, haftete er an dessen Fell oder Haut fest und benutzte es als Fortbewegungsmittel. Dabei schafften die Netzlinge es irgendwie, die Kontrolle über ihre Transportwesen zu gewinnen und sie auf diese Weise zu den fettesten Weidegründen zu lenken.
    Wie Hirgan Krogensen herausgefunden haben wollte, nahmen sie ihre Nahrung über die »Netzhaut« auf. Hierzu sonderten sie eine ätzende Flüssigkeit ab, die zur Zersetzung des Futters diente. Üblicherweise lebten sie ausschließlich von pflanzlicher Kost, schreckten aber im Notfall auch nicht davor zurück, ihre Wirtstiere bei lebendigem Leibe zu verdauen. Sie waren wohl hauptsächlich wegen dieser Angewohnheit als  »grausame Menschenfresser« vers c hrien, und das, obwohl  Krogensen in seiner langjährigen Forschungsarbeit keinen einzigen Beweis für diese Behauptung gefunden hatte.
    Die Körperfäden dieser Wesen seien transparent, hatte der Forscher berichtet, nicht dicker als die peitschenartigen Zweigenden von Trauerweiden und fühlten sich wie klebrige Gummimasse an. Ihre Färbung könne variieren, wobei die Durchsichtigkeit grundsätzlich erhalten bliebe. Trotz dieses eher verletzlichen Aussehens seien die Fäden aber sehr elastisch und selbst von einem Schwert nur mit Mühe zu durchtrennen. Feuer mochten die Netzlinge allerdings gar nicht. Bei dem von Ergil angesprochenen »Vitex« handelte es sich um eine Art Knoten, der die meisten lebenswichtigen Organe enthielt.
    Geradezu begeistert hatte Krogensen sich über die Vielgestaltigkeit der Netzlinge ausgelassen. Er schrieb, sie könnten ihre Körper in fast jede Form stülpen und versteifen, wobei sie immer ein mehr oder weniger durchsichtiges Netz blieben. Einige Exemplare, berichtete der Forscher weiter, hätten aus ihrem Netzleib einen Hohlkörper gebildet und sich dann in Moos und lockerer Erde gewälzt, um sich als Fels zu tarnen. Andere sollten als große Kugeln einen Berghang hinabgerollt sein, sich als Hängematte ausgegeben oder sogar die Form eines Menschen nach g eahmt haben.
    Diese Schilderungen lassen erahnen, warum ein wissbegieriger junger Mann wie Ergil so erpicht darauf war, mehr über diese wundersamen Geschöpfe zu erfahren. Trotzdem vermochte er nicht ganz die Befürchtung aus dem Hinterkopf zu verbannen, die an sich harmlosen Wesen könnten unter Wikanders Einfluss ähnlich schlimme Veränderungen erfahren haben wie die Fiederfische oder der Mondtau. Seine Sinne waren weit geöffnet und nahmen – teilweise verwirrende – Reize auf, die weit jenseits der für Menschen üblicherweise wahrnehmbaren Welt lagen.   
    Nach etwa einer Meile wurde die Klamm breiter. Der Wildbach tobte mitten hindurch. Ihn zu überqueren, um an das jetzt breitere Nordufer zu gelangen, erschien Tusan jedoch zu riskant. Das Tosen des Wassers zerrte mindestens ebenso an den Nerven der Reiter wie die ständige Bedrohung durch die Netzlinge. Auch die Krodibos schienen die Anspannung zu spüren.

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