Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
bevorzugte, mit denen er lähmende Pfeile verschoss), aber er bewunderte ebenso Ergils erstaunliches Wissen über Pflanzen und Tiere. So wuchs zwischen den jungen Männern eine Freundschaft, deren wahre Tiefe sie selbst erst später erkennen sollten.
Über den Tagen dieser allmählich gedeihenden Vertrautheit geriet der eigentliche Anlass ihrer Reise im Bewusstsein der Zwillinge mehr und me h r in den Hintergrund. In einem Traum macht man sich ja auch wenig Gedanken über das Vorher und Nachher. Man erlebt nur das Jetzt. So ähnlich fühlten sich Ergil und Twikus, nachdem die ersten vier Wochen im Gebirge hinter ihnen lagen. Selbst die jüngsten Erlebnisse in Bolk erschienen ihnen seltsam unwirklich, wie ein Bild aus ferner Vergangenheit, das man mit höflicher Neugierde betrachtet, ohne davon wirklich ergriffen zu sein. Nach zwei Monaten glaubten sie, die Wanderung durch den Grotwall würde niemals e nden. Und als sich die Tage seit dem Aufbruch im Großen Alten fast verdoppelt hatten, gab es für sie nur noch diese Welt aus kühlen Nadelwäldern, schroffen Felsen und grün schimmernden Gletschern.
Der dritte Monat des Marsches durch den Grotwall neigte si c h gerade dem Ende, als es merklich öfter talwärts als bergauf ging. Außerdem wurde es spürbar wärmer.
Zwei Tage später – sie hatten gerade die letzten Schneefelder hinter sich gelassen – sprach Tusan an einem sonnigen Morgen erschreckend leise die Worte, die man gleichermaßen herbeigesehnt wie auch gefürchtet hatte: »Da vorne beginnt das Tal der Fischer.«
Ergil rutschte auf Schneewolkes Rücken unbehaglich hin und her. Selbst Tusan hatte, wie der Prinz inzwischen wusste, dieses »Tal« nie durchquert. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Klamm, die jetzt wie ein himmelhoher Riss in einer senkrechten, grauen Felswand vor ihnen lag. Bereits seit dem Morgen waren sie dem Wildbach gefolgt, der in dieser engen Schlucht verschwand.
Die Gefährten brachten ihre Ti e re in einer Linie zum Stehen.
»Sieht feucht aus«, sagte Dormund.
»Der beste Weg soll der am Südufer des Baches sein«, erklärte Tusan.
»Du machst mir Spaß. Auf der anderen Seite tost das Wasser j a bi s a n de n Fels.«
»Eben.« Der Fährtensucher grinste.
Falgon schlüpfte mit dem Arm durch den gespannten Jagdbogen, um ihn im Notfall griffbereit zu haben. »Weiß jeder Bescheid, wie er sich da drin zu verhalten hat?«
»Keine Spinnweben anfassen«, sagte Dormund.
»Die Dinger heißen Netzlinge«, korrigierte ihn Tusan. »Es geht auch nicht darum, ob wir sie berühren. Sie sind lebende Wesen, mindestens so gescheit wie wir, und sie könnten aus eigener Kraft auf Tuchfühlung mit uns gehen. Deshalb haltet zu ihnen so viel Abstand wie irgend möglich. Außerdem müssen wir ständig unsere Umgebung beobachten. Ich reite voraus und seh mich talwärts um. Dormund sichert uns von hinten, Falgon die rechte und Twikus die linke Flanke. Wenn irgendjemand ein großes graues ›Spinnennetz‹ entdeckt, das sich auf uns zubewegt, dann schlagt Alarm. W ir werden jetzt unsere Fackeln anzünden – damit können wir sie uns vom Leibe halten. Ach ja, und die Netzlinge lieben es, sich auf ihre Beute herabfallen zu lassen. Also blickt auch ab und zu nach oben. So weit alles klar?«
Vier blasse Gesichter signalisi e rten verhaltene Bereitschaft.
»Von mir aus kann’s losgehen«, flötete Schekira. Tusan gehörte inzwischen zum Kreis ihrer Vertrauten, weshalb sie sich ihm in ihrer wahren Gestalt zeigte.
»Verlass dich nicht zu sehr auf deine Flügel, Prinzessin. Selbst du kannst den ›Fischern‹ ins Netz gehen.«
»Dann verwandle ich mich in eine Schere.«
»Kira!«, jammerte Ergil. »Mir ist jetzt wirklich nicht zum Scherze n zumute.«
»Entschuldige, mein Retter. Ich bin schon ganz still.«
»Danke.«
»Sicherheitshalber halte ich dich ab e r an der Schulter fest.«
»Das ist nett von dir.«
Tusan hob den Arm, als müsse er eine ganze Armee zum Sturm befehligen. »Schluss mit dem Gezauder, Freunde. Jetzt geht’ s los!«
Und du bist ganz sicher, dass ich nicht die Zügel übernehmen soll? Twikus frag t e jetzt schon zum dritten Mal.
Ja, antwortete Ergil. Mit der Rechten hielt er sich am Griff der Fackel fest, mit der Linken an Schneewolkes Zügel. Unbehaglich blickte er an der feuchten Granitwand empor, die fast senkrecht neben ihm aufragte. Hier und da klammerten sich kleine Pflänzchen an Vorsprünge und Ritzen. Aus einer Spalte quoll Wasserdampf. Weit über sich
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