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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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der Flussfahrt ausgiebig seinen weinseligen Übermut bedauert, dem er dieses wagemutige Unternehmen verdankte. Der Grotwall war, wie der alte Name unmissverständlich ausdrückte, ein natürlicher großer Schutzwall, der als fast so unüberwindlich galt wie der Weltenbruch. Hinzu kamen die Legenden von den bizarren Bewohnern des Tals der Fischer. »Wohlan, Freunde, lasst uns nach Soodland ziehen!« Jetzt konnte er nur noch über seine im Rausch dahingeschwätzten Worte lachen. Was hatte er sich nur dabei gedacht?   
    Die sechs Krodibos kannten keine Müdigkeit, ihre fünf vermummten Reiter dagegen schon. Ergil hatte seinen Bock Schneewolke genannt, obwohl sein Bruder diesen Na men weibisch fand (das sollte sich aber ändern, nachdem sie in den ersten Eissturm geraten waren). Tusan rief sein Krodibo Krodibo, was die Zwillinge nicht besonders originell fanden. Das überzählige Tier hieß Flocke. Es trug den Proviant von Ergil und Twikus, Falgon, Dormund, Múria sowie Tusan. Schekiras Rationen fielen nicht weiter ins Gewicht.
    Tusan hatte einen Weg eingeschlagen, der im Groben stetig nach Nordosten führte. Weil die Täler und Pässe ihnen nicht immer den Gefallen taten, diese Richtung ein z uhalten, mussten sie des Öfteren Umwege in Kauf nehmen. Für Schekira wäre es bis zum Tal der Fischer ein Flug von etwa achthundert Meilen gewesen, am Boden war die Strecke aber bei weitem länger.
    Anfangs stießen sie noch auf vereinzelte Siedlungen, aber Fa lgon und Múria hielten es für zu gefährlich, sich dort blicken zu lassen: Wikanders Spione lauerten überall, seine tausend Augen schliefen nie. Also schlich man sich an den Dörfern vorbei. Im Schnee waren die Gefährten kaum zu entdecken, weil nicht nur ih r e Reittiere weiß waren, sondern auch die Fellkleidung, die sie in Bolk bekommen hatten. Bald wurde die wärmende Wirkung der Mäntel und Hosen aber wichtiger als die Tarnung, denn je tiefer sie in den Grotwall vordrangen, desto kälter wurde es. Nur Schekira focht der fast ununterbrochene Frost nicht an. Elven besaßen dagegen einen natürlichen Schutz. In ihrem ärmellosen, silbrig funkelnden Kleidchen mit dem kurzen gebauschten Rock trotzte sie lachend den beißend kalten Winden.
    Oft bewegten sich die Gefährten in eisigen Höhen über schmale Gebirgspässe. Um nicht der Schneeblindheit anheim zu fallen, trugen sie Hornblenden vor den Augen, die nur  schmale Sehschlitze offen ließen. An solchen Tagen legten sie selten mehr als fünfzehn Meilen zurück. In den Tälern ka m en sie besser voran. Obwohl man im ebenen Gelände auf dem Rücken eines Krodibos kaum die Schritte der Tiere spürte, wurde den Reitern das tagelange Sitzen immer mehr zur Tortur. Múria nutzte manche Stunde, um ihre Schüler mit weiteren Lektionen noch zusätzlich zu traktieren. Trotz seiner Erschöpfung war Twikus jedes Mal dankbar, wenn er abends zu Fuß ganz allein in den Wald laufen konnte, um zu jagen.
    Ergil indessen ging einfach spazieren und atmete gierig die kühle Luft. Wenn seine Nasenflügel sich beim L u ftholen zusammenzogen und von der Kälte kleben blieben, dann fühlte er sich in seine frühe Kindheit versetzt. In Soodland waren die Winter lang und eisig. Konnte er sich tatsächlich daran erinnern, jetzt, wo er sich dem Ort seiner Geburt täglich näherte, oder bildete er sich das alles nur ein?
    Wenn man mit sechzehn der Jüngste in einer Gemeinschaft ist und der Nächstältere dreißig Jahre mehr zählt, dann sehnt man sich gelegentlich nach einem, dessen Sturm- und Drangzeit weniger weit zurückliegt, der mit einem Halbwüchsigen, in dem die Säfte schießen und auch manche Zweifel sprießen, mitfühlen kann. Tusan – er war sechsundzwanzig – erfüllte diese Kriterien. Ja, für die Zwillinge wurde er zu einer Offenbarung, wenn auch Twikus dieses Bedürfnis viel stärker empfand als Ergil.
    Der junge Fährtensucher erwies sich bei aller Umsicht, die er in der freien Natur walten ließ, als ausgesprochen fröhlicher Geselle, der fast immer zu einem Spaß aufgelegt war. Seinen gut gezielten Schneebällen entkam man fast nie. Weil er sich oft, lange und erstaunlich offen mit den Prinzen unterhielt, begannen sie bald die Erfahrungen des jeweils anderen zu schätzen. Tusan konnte wie ein kleiner Junge staunen, wenn Twikus wieder einmal mit dem Bogen seine Treffsicherheit  unter Beweis ste l lte (der Fährtensucher war ein mindestens ebenso begabter Jäger, wenngleich er als Waffen Blasrohre unterschiedlicher Länge

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