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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Kindsköpfen gewonnen hatte, blieb er wieder stehen und schloss die Augen.
    Das grüne Gitterwerk des Irrgartens erschloss sich seinem sechsten Sinn Schicht um Schicht. Es in seiner Gänze zu überblicken, machte es für Twikus aber kaum verständlicher, eher im Gegenteil. Erschrocken musste er sich eingestehen, dass es Stunden dauern konnte, bis er mit seinem geistigen Auge in dem verwirrenden Geflecht den einen richtigen Weg finden würde.
    Ergil, bist du da?, rief er verstört in sich hinein.
    Muss eingenickt gewesen sein. Bin aber gerade aufgewacht, als du unsere Aufpasser verjüngt hast, antwortete es aus seinem Innern.
    Wir sind im Palastlabyrinth. Mir ist nie so bewusst gewesen wie gerade jetzt, dass man etwas durchschauen, aber trotzdem nicht verstehen kann. Die Flure sind der reinste Hexenknoten. Bis wir den aufgeknüpft und Wikander herausgepult haben, kann eine Ewigkeit vergehen.
    Die haben wir aber nicht.
    Was soll ich deiner Meinung nach tun?
    »Lass dich nicht blenden vom falschen Schein äußerlicher  Pracht oder schreckensvoller Drohgebärden…«
    Halt mal, das sind doch Olams Worte!
    Ja, genau. Dann erinnerst du dich wohl auch noch, wie er den Palast der Schmetterlinge vor unseren Augen aufgelöst hat. Er hätte uns kaum besser anschaulich machen können, wie wenig Gehalt der »falsche Schein« einer Sache hat.
    Mag sein, aber das Labyrinth besteht nicht aus  Schmetterlingen.
    Und trotzdem ist es nichts als Blendwerk. Oder hast du nicht längst die Gemächer des Königs entdeckt?
    Selbstverständlich. Wir sind sogar im r ichtigen Stockwerk. Sie liegen links von uns: eine Halle, ein etwas kleinerer Saal und mindestens ein Dutzend weiterer Räume. Wenn mich mein  Gefühl nicht trügt, habe ich im größten davon sogar schon unseren Oheim ausgemacht.
    Na, dann nichts wie hin. – Nisrah, bist du da? Wir müssen  Twikus helfen.
    Braucht man mich, bin gleich zur Stelle ich, meldete sich wohlgemut der Netzling.
    Schön und gut, nörgelte Twikus, aber wie kommen wir ins Herz dieses Palastes? Ich kann ja schlecht mit dem Kopf durch die Wand rennen.
    Wieso nicht? Das tust du doch sonst auch immer.
    Witzbold.
    Ich meine es ernst, Twikus. Für Umwege ist die Zeit zu knapp. Mach’s wie ich im Palast des Äonenschläfers und wie du eben in der Halle des schlafenden Glanzes: Wähle den direkten Weg.
    Mit einem Mal begriff der Prinz, was sein Bruder meinte. Er stellte sich mit dem Gesicht zur Wand, nahm den Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil auf die Sehne. Danach schloss er die Augen, um sich besser sammeln zu können.
    Dann trat er durch die Mauer.
    Es war ein äußerst eigenartiges Gefühl, massive Steinwände einfach zu durchwandern. Im Bewusstsein, mit seinen Kräften wie auch mit jenen Nisrahs und seines Bruders gut haushalten zu müssen, umgab er sich lediglich mit einer dünnen Aura der Macht. Der vom Mauer w erk ausgefüllte Raum wurde von ihm nur dort in die Vergangenheit versetzt, wo er seinen Weg kreuzte. Dabei hinterließ er eine Schneise, deren Form ziemlich genau seinem Schattenriss entsprach – hier und da waren die rieselnden Ränder ein wenig ausgefranst. Weil das Labyrinth sich an den entsprechenden Stellen infolge einer gezielten Verjüngung um etwa zehn Jahre einfach auflöste, vollzog sich dessen Durchquerung erstaunlich leise. Am lautesten waren da noch die Schreie einer Konkubine und ihrer  Zofe, die sich gerade im Schlafgemach des Königs befanden, als der Eindringling durch die Mauer trat. Die Frauen flüchteten sich in eine gemeinschaftliche Ohnmacht.
    Als Twikus in einem Empfangszimmer die Mauer der großen Halle erreichte, hielt er kurz inne. Er musste Kraft sammeln. Die Durchquerung der Wände war doch anstrengender gewesen als erwartet. In Ruhe kontrollierte er den Köcher – die gefiederten Pfeilschäfte befanden sich in Reichweite seiner rechten Hand –, vergewisserte sich, ob die Schlaufe des gläsernen S chwertes locker genug saß – es würde sich mit einem Ruck ziehen lassen –, und legte wieder den Pfeil an die Bogensehne. Zuletzt schöpfte er noch einmal tief Atem und schritt lautlos durch die Wand.
    Im Wesentlichen kannte Twikus die Halle ja bereits. Sie war an die siebzig Fuß lang und ebenso breit. Zahlreiche Kohlebecken sorgten für erträgliche Temperaturen. Der Boden bestand aus rotem Marmor, in den ein Drache aus schwarzem Granit eingelassen war. An den Wänden hingen riesige Teppiche, die wilde Landschaf t en von atemberaubender Schönheit zeigten:

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