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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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r ihm setzte sie sich – ohne Geländer – in Drachenbein fort, demselben gelblich weißen Material, aus dem der ganze Turm bestand. In einer gestreckten Spirale wand sie sich den Bergfried hinauf.
    Twikus ließ seinen Blick in den Innenhof wandern – und erschauderte. Er wurde von seiner Erinnerung geradezu überwältigt, ja die Schatzkammern seines Gedächtnisses öffneten sich so überraschend, dass er nach dem Türring greifen musste, um nicht gegen das Treppengeländer zu taumeln und womöglich sogar in den Hof zu stürzen. Nicht die Bilder aus dem Traum von der schwarzen Lohe wurden vor seinen Augen lebendig, sondern die Erlebnisse aus frühesten Kindertagen.
    Seitdem hatte sich in dem inneren der zwei Mauerringe – mehr konnte er von seinem derzeitigen Standpunkt nicht überblicken – wenig verändert. Alles wirkte kleiner als damals, aber ansonsten sehr vertraut. Vor ihm lag der wuchtige Palastbau. Bis zu einer Höhe von etwa fünfzig Fuß war er fensterlos, lediglich schmale Schießscharten durchbrachen in größeren Abständen das graue Mauerwerk. Die Lichtöffnungen darüber hatten dicke Eisengitter. Nach allem, was der Prinz von Múria wusste, war das Gebäude nach Wikanders Machtübernahme entkernt und in einen riesigen Irrgarten umgewandelt worden. Irgendwo tief im Innern, dort wo kein Tageslicht hingelangen konnte, befanden sich die Gemächer des Oheims.   
    Links vom Palast sah der Prinz durch den schmalen Schlitz des Visiers die königlichen Stallungen und mehrere Wirtschaftsgebäude. Es gab sogar einen Kräutergarten und ein Rasenrondell, in dessen Mitte eine uralte Eiche stand. Rechts des Haupthauses schlossen sich die Quartiere der Palastwache an. Auf dem Weg dorthin herrschte ein reger Verkehr. Twikus atmete noch einmal tief durch und machte sich an den Abstieg. Er würde geradewegs zum Palastportal laufen, so als habe er dem König eine wichtige Meldung zu überbringen. Es ist gar  nicht schwer, sagte er sich immer wieder.
    Unter dem Turm liefen zwei Wachsoldaten vorbei. Einer blickte nach oben, sah Twikus und hob die Hand zum Gruß. De r Prinz erwiderte die Geste. Die Männer liefen weiter.
    Als Twikus endlich den Innenhof erreichte, wagte er ein erstes Aufatmen. Der Luftstrom aus seinen Lungen zirkulierte im Helm und wehte ihm einen intensiven Eisengeruch in die Nase. Schnurstracks lief er zum Portal. Es befand sich mitten in dem Helmausschnitt, durch den er seine Umgebung wahrnahm. Was um ihn herum passierte, das vermochte er nicht zu sehen. Ihm war schleierhaft, wie sich die Ritter mit solchen Töpfen auf dem Kopf in einer Schlacht zurecht f inden konnten. Er überlegte gerade, ob er noch einmal die alte Gabe bemühen sollte, um nach möglichen Gefahren Ausschau zu halten, als hinter ihm plötzlich eine Stimme erscholl.
    »Halt, Kamerad!«
    Soweit sich das überhaupt sagen ließ, war der Ruf von oben g ekommen. Von der Tür des Knochenturms. Obwohl dieser Umstand nichts Gutes verhieß, lief Twikus einfach weiter. Vielleicht hatte der Besitzer dieser befehlsgewohnten Stimme ja irgendjemand anderen gemeint. 
    »He, du da mit dem Bogen über der Schulter. Bleib sofort stehen!«   
    Siedend heiß wurden Twikus seine Fehler bewusst. Erstens hatte er seinen Fellmantel in der Turmkammer nicht sehr sorgfältig versteckt – vielleicht war er entdeckt worden – und zweitens trug er eine Waffe, die vermutlich nicht zur Grundaussta t tung der königlichen Leibgarde gehörte.
    Der Prinz wog seine Chancen ab. Bis zum Palastportal waren es noch mindestens zwanzig Schritte. Eine überstürzte Flucht nach vorn wäre wie ein Schuldeingeständnis. Das ganze Schloss würde sofort Jagd auf ihn machen. Den Ruf weiter zu ignorieren hätte vermutlich dieselbe Wirkung. Nur wenn er so wenig Aufsehen wie möglich machte, ließ sich ein Auflauf von Soldaten vermeiden. Gegen eine Hand voll Männer hingegen konnte er seine Kräfte ins Spiel bringen…
    Twikus blieb stehen und drehte sich langsam um.
    Von der Treppe eilten ihm drei geharnischte Soldaten entgegen. Ihre Bewaffnung bestand aus Schwertern und Lanzen.
    Die Visiere der Männer waren hochgeklappt. Aus dem vorderen Helm quollen aschblonde Haare, die wenig Gesicht er kennen ließen. Ein Paar blauer Augen blickte dem Prinzen grimmig entgegen. Im Näherkommen gab der Soldat Kommandos an seine Begleiter aus. Der gestrenge Ton und das selbstsichere Auftreten verrieten ihn als einen Mann mit Befehlsgewalt. Seine kleine Armee schwärmte nach beiden Seiten

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