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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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vorübergehend sowie völlig harmlos ab.
    Er sollte Recht behalten. Bald schon verlagerte sich die Aufmerksamkeit des Jungen auf jene Hälfte der Einwohnerschaft, die Röcke trug, und darüber vergaß er schnell seine Übelkeit. Schon vor der Stadtmauer hatte er einige Frauen und Mädchen gesehen, wobei sie dort eher i n der Unterzahl waren. Hier jedoch begegnete man ihnen auf Schritt und Tritt, und das in allen denkbaren Variationen: groß und klein, dick und gertenschlank, alt und jung, sie trugen züchtige lange Röcke oder aber Kleider, die mehr entblößten als verdeck ten. Gerade die Mädchen und Frauen der letzten Art warfen Ergil lüsterne Blicke zu, womit sie ihn ziemlich verwirrten. Ein derber Stoß gegen die Schulter beendete jäh die Entdeckungsreise seiner weit aufgerissenen Augen.
    »Von denen lässt du besser die Fin g er«, brummte Falgon.
    »Sie versprechen dir Freuden für eine Nacht und hinterher verbrennt dich ihr Gift für den kurzen Rest deines Lebens. Wenn du unbedingt etwas anstarren musst, dann sieh dir mal das da an.« Er deutete mit dem Kinn nach vorn.
    Sie betraten gerade einen kleinen Platz, in dessen Mitte sich ein runder Brunnen befand. Drei Männer mühten sich dort mit einer Art Riesenschale aus Holz ab, die sie über die gemauerte Einfassung schoben, bis der Rand des Deckels die Umfriedung passgenau umschloss und hörbar nach unten rutschte. Über  dem Verschluss kreuzten sich vier geschmiedete Bänder, an deren Enden schwere Ketten hingen. Diese wurden von einem der Männer durch Ösen gefädelt, die nahe dem Boden in das Mauerwerk eingelassen waren. Am Ende sicherte er diese eherne Fessel mit schweren Schlössern.
    »Möge Eure Hoffnung nie sinken. Was tut Ihr da, Nachbar?«, fragte Falgon. Er und Ergil waren inzwischen vor dem Brunnen stehen geblieben, um dem seltsamen Treiben der drei zuzusehen.
    »Möge die Eure zur Sonne Eures Lebens werden. Ihr seid wohl eben erst angekommen, dass Ihr mich danach fragt«, entgegnete mürrisch der Mann mit dem Schlüssel.
    »Da habt Ihr Recht. Ich bin nicht das erste Mal in Fungor, aber nie habe ich hier dergleichen gesehen. Warum verschließt Ihr diesen Brunnen, als fürchtetet Ihr, jemand könne Euch daraus das Wasser stehlen?«
    »Es ist nicht das Wasser, das verschwindet«, antwortete der Mann mit düsterer Miene. »Im Übrigen wird nicht nur dieser Brunnen des Nachts versiegelt, sondern auch die neununddreißig anderen in der Stadt. Das tun wir jetzt schon seit fast sechs Monaten.«
    »Und aus welchem Grund?«
    Der Mann mit dem Schlüssel schüttelte ungläubig den Kopf.
    »Ihr habt tatsächlich noch nicht davon gehört?«
    »Ich würde Euch nicht fragen, wenn es anders wäre.«
    »Dann beneide ich Euch, weil Ihr um einen Schrecken ärmer seid als die Bürger von Fungor. Sucht euch schleunigst eine Bleibe für die Nacht, ehe das letzte Tageslicht gewichen ist, und bleibt dort bis zum Morgengrauen.«
    »Vielen Dank für den Rat, aber mich würde trotzdem interessieren, wozu all diese Vorsichtsmaßnahmen…«
    »Wir haben keine Zeit, Fremder. In unserem Viertel sind noch vier Brunnen, die wir verschließen müssen. Am besten,  Ihr geht zu der Herberge etwas weiter unten in der Gasse. Die haben bestimmt noch zwei Strohsäcke für Euch und Euren jungen Begleiter. Lebt wohl!«
    Die drei Männer gingen ohne ein weiteres Wort davon, fast so, als wären sie froh, das rätselhafte Übel nicht aussprechen zu müssen, das sie von den Bürgern Fungors fern zu halt e n suchten.
    »Das gefällt mir nicht«, brummte Falgon.
    »Na, endlich merkst du es auch«, entgegnete Ergil.
    »Meine Sinne sind zwar vom Lärm und Gestank der Stadt getrübt, aber sogar ich kann die Angst spüren, die den Leuten in den Knochen steckt«, piepste Schekira leise.
    »Ich schlage vor, wir brechen unseren Erkundungsgang ab und begeben uns auf kürzestem Wege zu Dormund. Behaltet Augen und Ohren offen und sagt mir, wenn ihr etwas Verdächtiges bemerkt.«
    Der Junge und der Eisvogel nickten zugleich, als hätten sie den Einklang dieser Geste eingeübt. Die Pferde weiter am Zügel führend verließen Ergil und Falgon den Platz mit dem versiegelten Brunnen. Für den jüngeren der beiden Waldläufer war das Netz aus Gassen wie ein riesiger Irrgarten aus Holz und Stein, aber d e r ältere kannte sich in der Stadt offenbar gut aus. Wann immer sie auf einen Abzweig oder eine Kreuzung stießen, traf er seine Wahl ohne das leiseste Zögern. Auf ihrem Weg zu Dormunds Schmiede sahen sie

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