Mirad 02 - Der König im König
Linie zwischen ihm und seinem Gegner kauerte die Prinzessin. Sie wirkte verängstigt. In den letzten Stunden musste sie Furchtbares durchgemacht haben.
Mit einem Mal hob Nishigo die Augen und sah genau in seine Richtung.
Als sich ihre Blicke trafen, war Twikus so überrascht, dass er fast vornübergekippt wäre, womit er sich zweifellos verraten hätte. Schnell gab er ihr ein Zeichen und hoffte, sie würde ihn verstehen: Du musst Kaguan ablenken! Versuche zu fliehen! Ich brauche freie Schussbahn.
Da er nicht über die Gabe der Gedankenübertragung verfügte, hatte wohl allein sein Anblick ihr neuen Mut eingeflößt. Jedenfalls kroch sie, ohne zu zögern, zum Rand des Plateaus und suchte an der Felswand nach geeigneten Vorsprüngen und Spalten für den Abstieg. Schnell fand sie einen Grat, den sie mit den Füßen erreichen konnte, und schob sich mit selbigen über die Kante des Felsentisches. Noch hatte der Zoforoth nichts bemerkt. Er schien völlig in seinen Gesang versunken zu sein.
Twikus spannte den Bogen und zielte auf den Kopf des Feindes. Sollte er sofort schießen? Oder war ein gesonderter Teil von Kaguans Bewusstsein damit beschäftigt, auf heranschwirrende Pfeile zu achten?
Plötzlich rutschte Nishigos Fuß ab. Twikus’ Herz setzte einen Schlag aus. Er sah sie schon in die Tiefe stürzen, aber es gelang ihr, wieder festen Stand zu erlangen. Zuvor hatte sie offensichtlich einen neuen, tieferen Tritt ausgemacht und versuchte jetzt, sich darauf hinabzulassen.
Unvermittelt erstarb Kaguans Gesang.
Er hat sie entdeckt! Der Gedanke und das Loslassen der Bogensehne waren eins. Auf diesen Moment der Ablenkung hatte Twikus gehofft.
Unglücklicherweise bewegte sich der Zoforoth just in dem Augenblick, als der Pfeil die Sehne verließ. Das schmale Geschoss sirrte durch die Luft, genau durch die Stelle, wo eben noch Kaguans gesichtsloser Kopf gewesen war, und senkte sich anschließend zum Meer hinab.
»Ich hätte auf seine Brust zielen sollen. Die ist breiter«, knirschte Twikus ärgerlich. Er hatte das Überraschungsmoment nicht genutzt. Von nun an wurde die Lage für ihn und Nishigo schwierig.
Um Kaguan von der Prinzessin abzulenken, schoss er sofort einen zweiten Pfeil ab. Erwartungsgemäß klaubte der Zoforoth diesen einfach aus der Luft. Dann zog er Schmerz aus dem Fels.
Ergil?, rief Twikus nach dem Bruder.
Dessen Gedankenstimme antwortete umgehend. Jetzt, wo er uns sowieso entdeckt hat, kannst du die Gabe benutzen. Such schnell einen Durchschlupf im Faltenwurf, am besten einen, der direkt in sein Herz mündet.
Twikus hörte, wie Kaguan erneut die Stimme zum Gesang erhob. Beim Herrn der himmlischen Lichter! Er heckt irgendwas aus.
Aber dazu braucht er Zeit Konzentriere dich auf die Falten!
Twikus sammelte sich. Es fiel ihm schwer, weil in seinem Bewusstsein die Unwägbarkeiten des Vorhabens wie dracheneigroße Hagelkörner einschlugen: Da war einmal die Frage, ob er schneller zum Zuge kommen würde als Kaguan, und zum anderen die Erkenntnis, selbst im allerschönsten Schlupfloch nur eine dunkle Wolke vorzufinden, die jeden sicheren Schuss durch die Falten der Welt unmöglich machte. Sein Zaudern führte zu einer dramatischen Zuspitzung der Lage.
Unvermittelt spürte er, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab. Wo eben noch massiver Fels gewesen war, schien sich jetzt ein Gemisch aus Sand und Moder zu befinden. Twikus kannte die Namenlosen Sümpfe, einige morastige Stellen im Großen Alten und manche überschwemmte Flussaue – überall konnte man im aufgeweichten Grund mehr oder weniger tief einsacken. Hier dagegen blieb der Fels trocken und verhielt sich trotzdem wie dicke Hafergrütze. Ihm behagte die Vorstellung überhaupt nicht, in Hafergrütze einzusinken. Aber trotzdem fühlte sich das, was gerade mit ihm geschah, genau so an. Entsetzt blickte er an sich herab. Bis zu den Knien steckte er bereits im Steinbrei fest.
Wir müssen springen!, rief Ergils Gedankenstimme.
Wohin? Etwa auf die Klippe?
Erst mal nur raus hier, bevor wir ganz im Fels versinken.
So schnell wie nie zuvor tauchte Twikus in die grüne Zwischenwelt ein, in der sich Zeit und Raum verbanden. Und nie war es ihm so schwer gefallen, sich auf einen Sprung durch die Faltenlandschaft Mirads zu konzentrieren. In dem Moment, als der Boden ganz unter ihm nachgab, versetzte er sich auf einen anderen Felsen.
Jetzt war Kaguan links von ihm. Jeder Mensch hätte vermutlich hektisch den Kopf nach allen Seiten gedreht, um den verloren
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