Mirad 02 - Der König im König
schnürte es sich um den Leib.
Die Beine der Prinzessin baumelten über dem Abgrund. Ihre Hände waren in dem zähen Steinbrei vergraben, der langsam mit ihr nach unten sank. Twikus ließ sich auf ein Knie nieder und beugte sich zu ihr hinab.
»Gib mir deine Hand, Nishi!«
Sie zögerte.
Twikus versuchte Kaguan mit der Alten Gabe weiter zu beobachten – das Kristallschwert belohnte diese Anstrengung mit einem bohrenden kalten Schmerz – und gleichzeitig seine ganze Körperkraft für die Rettung Nishigos einzusetzen. Er warf sich auf den Bauch, griff nach ihrem Handgelenk – einen Wimpernschlag später stürzte der breiige Klumpen, den sie eben noch festgehalten hatte, in den Abgrund.
Nun glitten die Prinzessin und der König gemeinsam nach unten. Sie schrie und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er seine Deckung aufgeben musste, wenn er sie beide aus dieser Notlage befreien wollte. Sollte Kaguan sich von hinten an ihn heranschleichen, würde er es erst zu spät bemerken. Trotzdem ließ er seinen Sirilimsinn den Rückzug antreten.
Ergil, Nisrah, ich brauche jetzt eure Hilfe, rief er in sich hinein.
Er glaubt doch tatsächlich, wir hätten bis jetzt nur tatenlos in seinem Hinterstübchen herumgehangen, schnaubte sein Bruder.
Kann man denn etwas anderes tun als herumzuhängen?, wunderte sich der Netzling.
Derweil löste sich der Teil des Plateaus, auf dem Twikus lag, mit zäher Beharrlichkeit von dem anderen, auf dem Kaguan das Geschehen gesichtslos verfolgte.
Zum dritten Mal hallte die Riesenposaune durch die Dämmerung.
Dann brach die Klippe auseinander. Twikus nahm die Geschehnisse nur noch wie in Trance wahr. Er und Nishigo fielen. Seltsamerweise war aber auch der Zoforoth mit selbstmörderisch kraftvollem Schwung in die Tiefe gesprungen. Für einen befremdend langen Moment schienen die drei nebeneinanderher zu schweben. Unversehens tauchte von unten ein Schatten auf. Es war ein riesiges Maul, gespickt mit einem Gewirr spitzer Zähne. In seinem seltsam entrückten Zustand hatte Twikus sogar noch die Gelegenheit, den Kopf des Seeungetüms wiederzuerkennen.
Das ist die Kometenschlange, die das Kristallschwert aus dem Schollenmeer heraufgebracht hat, klärte er sich selbst und seinen Bruder auf. Und jetzt nimmt sie ihren Schatz wieder zurück.
Um diese Deutung mit Gewissheit zu untermauern, fehlte ihm aber doch die Zeit. Während sich das Maul um Kaguan und das Schwert Schmerz schloss, entschlüpfte Twikus mit der Prinzessin durch eine ziemlich hastig ausgewählte Falte der Welt.
Einen Herzschlag später hatte sich die Hafergrütze wieder in Fels verwandelt und stürzte donnernd in sich zusammen.
22
DER EWIGE SCHWARM
Sie landeten wie angepeilt, wenngleich ziemlich unsanft, auf dem Bogen, den Twikus bei seinem vorherigen Sprung verloren und beim letzten als Zielpunkt anvisiert hatte. Beim Aufschlag entglitt ihm Nishigos Handgelenk. In beklemmender Nähe stürzte gerade die Klippe ein. Das Poltern der Felsbrocken war trommelfellzerfleddernd. Dem Lärm folgte eine dichte Staubwolke.
»Bedecke Mund und Nase!«, schrie Twikus der Prinzessin zu, dann sah er nichts mehr.
Er fühlte sich wie mit dem Dreschflegel aus der Haut geklopft. In Gedanken rief er nach dem Netzling.
Bist du in Ordnung, Nisrah?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Danke der Nachfrage, mein lieber Freund. Mir sind ein paar Knoten geplatzt, aber der wichtigste ist heil geblieben.
Mach dir mal um uns keine Sorgen, mischte sich Ergil ein. Kümmere dich jetzt lieber um deine Freundin.
Meine…?
Brauchst gar nicht zu versuchen, es abzustreiten.
Twikus schluckte ein Widerwort hinunter, das ohnehin ziemlich unglaubhaft geklungen hätte. Ächzend kam er wieder auf die Füße, warf sich den Bogen quer über die Brust und begann in der sich allmählich setzenden Staubwolke mit der Suche nach Nishigo. Zwei oder drei tastende Schritte später hatte er sie gefunden.
Er half ihr beim Aufstehen und befragte kurz seinen Sirilimsinn, um sich zu orientieren. Sie befanden sich in einem Spalt, der so wenig gerade war wie ein Riss in der Glasur eines Keramiktellers. Um ihn zu erkunden, musste Twikus seine Gabe kurzzeitig verstärken. Auf der einen Seite endete der Spalt bei der eingestürzten Klippe und in der anderen Richtung setzte er sich eine halbe Meile landeinwärts fort. Dort irgendwo mussten die Gefährten warten.
Twikus versuchte sich zu erinnern, wie sich ein Beschützer gegenüber einer frisch geretteten
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