Mirad 03 - Das Wasser von Silmao
Die mit Gemmen besetzte Lade, in der Falgons sterbliche Überreste Ergil ausgehändigt worden waren, wurde in eine Kammer tief unter der Festung eingeschlossen. Sie mit in Falgons Grab zu legen, hätte Ergil als immerwährende Verhöhnung des Verstorbenen empfunden.
Die Trauer um den Ziehvater bewahrte den König vor der berauschenden Fröhlichkeit, die während der Siegesfeiern um sich griff. Vielen sollte sie zum Verhängnis werden. Dabei war die Freude über den jungen Helden nicht mehr als Tünche über einem vom Einsturz bedrohten Gemäuer. Keiner wusste das besser als Ergil. Schon bei seiner Rückkehr in den Königspalast hatte er sich gefragt, warum es im Laufe seiner zweieinhalbmonatigen Heimreise nicht wärmer geworden war. Der Jahreszeit nach sollte es Hochsommer sein, indes schien der Schneeschmelze des Frühlings unmittelbar der Herbst zu folgen. Schon jetzt rechnete man mit einer erneuten Missernte. Eine schwere Hungersnot wäre unabwendbar. Waren die letzten unnatürlich harten Winter etwa gar keine Folge eines Fluches von Magos, dem »Herrn in den Eisigen Höhen«? Oder gab es da noch etwas anderes, das die Welt erkalten ließ? Twikus und Ergil hatten zwar großes Unheil von Mirad abgewendet, aber wenn es dem überlebenden Sirilimzwilling nicht gelänge, dieses Rätsel zu lösen und sein Volk satt zu machen, dann würde er dessen Ergebenheit schnell wieder verlieren. An eine Wahl zum Großkönig war unter solchen Umständen erst recht nicht zu denken.
Der Jubel und die Musik hallten noch durch die Gassen der Stadt, als über ihren Dächern im Palast die erste Sitzung des Großen Rats begann. Dieser tagte im »Saal des Bundes« an einem sechseckigen Tisch. Das mit kunstvollen Intarsien geschmückte Symbol der Gleichberechtigung aller Ratsmitglieder sollte bald zu einem Sinnbild der Zwietracht werden. Nur drei Königreiche waren durch ihre amtierenden Monarchen vertreten: Neben Ergil und Yabun Balkasar I. saß der kimorische König Helvik an der Tafel. Die Hälfte der Ratsmitglieder hatte zudem von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, einen weiteren Vertrauten hinzuzuziehen: Hinter dem Herzog von Bolk stand der Stuhl seines Sohnes Tusan, Borst erhielt Rückendeckung durch seinen Waffenmeister Torbas und Ergil hatte die Chronistin in den Rat berufen. Um den strengen Regeln des Protokolls Genüge zu tun, gehörte der Sirilo Jazzar-fajim förmlich dem Gefolge Yabuns, des yogobolesischen Königs, an. Wie schon das Stromland, so war auch Ostrich lediglich durch einen Emissär vertreten, den Reichsgrafen von Birkehave. Pandorien hatte aus Protest gegen die Anwesenheit Borsts die Teilnahme an den Gesprächen ganz verweigert.
Weil Ergils Hofgeschichtsschreiberin über ein weit verzweigtes Netz von Gewährsleuten verfügte, war man in Soodland hinreichend über die Absichten der Quertreiber im Bilde. Offenbar sahen sich sowohl Entrin in Pandor wie auch Godebar in Ostgard schon auf dem Thron des Großkönigs. Obwohl sie damit zu Rivalen wurden, mehrten sich die Gerüchte von einem neuen Bündnis zwischen den beiden, dessen vordringliches Ziel in der Unterwerfung der übrigen Reiche des Herzlandes lag. Der Abgesandte aus Ostrich wies derlei Vorwürfe natürlich als »haltlose Spekulationen« brüsk zurück. Auf welche Seite sich das Stromland in diesem Machtgerangel schlagen würde, war ungewiss. Nur der Herzog von Bolk hatte Ergil schon vor Monaten seiner Unterstützung versichert.
Obwohl also hinreichend Anlass zur Sorge bestand, wirkte der junge König von Soodland bei den Beratungen abwesend. Sprach man ihn an, reagierte er oft nicht. Während der drohende Bruch des jahrhundertealten Bündnisses der sechs Reiche im Großen Rat ungestüm diskutiert wurde, saß er nur teilnahmslos an der Tafel und schwieg. Am achten Tag nach seiner Heimkehr stand er mitten in einer hitzigen Debatte über die Vermeidung eines Krieges mit der »Achse Pandorien-Ostrich« unvermittelt auf und verließ wortlos den Saal.
1
DER VERBORGENE PALAST
Es hatte an der Tür geklopft. Und Ergil war wie von der Brockenspinne gestochen in die Höhe gefahren. Dabei hatte er sich gerade erst auf der gepolsterten Bank niedergelassen. Innerlich aufgewühlt war er aus dem Großen Rat in seine Gemächer geflohen, um hier seine Gedanken zu ordnen. Ein frommer Wunsch, wie er nun einsehen musste. Irgendjemand am Hof hatte wohl die Order ausgegeben, den König unter keinen Umständen zur Ruhe kommen zu lassen.
»Ja?«, rief er,
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