Mischpoche
allzu lange dauern.
Missmutig zündete er sich eine Zigarette an und hoffte, es würde ihn wenigstens niemand behelligen.
Keine Minute später saß ein feister Mittfünfziger mit kahlem Schädel, ungesunder Gesichtsfarbe und der leuchtend roten Nase eines Alkoholikers auf der Sitzbank gegenüber. »Wohin fahren wir denn, Euer Gnaden?«
Bronstein überlegte kurz, ob er vorwitzig mit »Das weiß ich nicht, wohin WIR fahren« antworten sollte, doch ahnte er, eine derartige Replik hätte den Fahrgast intellektuell überfordert und damit möglicherweise bloß aggressiv gemacht. Und einen Streithandel konnte Bronstein wahrlich nicht brauchen. Also sagte er bloß: »Ödenburg.«
»Na servus, da haben S’ ja eine wahre Odyssee vor sich, Euer Gnaden«, plauderte der Glatzkopf munter drauflos. »Zuerst einmal geht’s da jetzt ewig lang die Pottendorfer Linie entlang, nicht wahr. Meidling, Inzersdorf, Hennersdorf, Achau, Münchendorf, Ebreichsdorf. Dann kommen Weigelsdorf, Grammat Neusiedl, Reisenberg. Dann Unterwaltersdorf, Wampersdorf …«
Bronstein dachte sich, er hätte zu Mittag doch nicht so üppig zulangen sollen. Allein die Auflistung all dieser trostlosen Dorfnamen brachte seine Peristaltik nachhaltig in Wallung. Er wollte abwinken und dem ungebetenen Reisegefährten signalisieren, so genau wolle er es gar nicht wissen, doch der Mann war ohnehin nicht zu bremsen.
»Und wenn S’ einmal in Wampersdorf sind, dann ist Ihre Fahrt ja noch lange nicht zu Ende, ned wahr. Da kommen S’ dann erst nach Pottendorf, nach dem die Linie ja heißt, und vier Kilometer später sind S’ dann in Ebenfurth.«
Bronstein wünschte sich, der redselige Geselle wäre auch ›eben furt‹, und doch wusste er, der Vortrag würde ungebremst weitergehen. Er ahnte, was jetzt kam. In der Tat erläuterte die Schnapsnase wortreich, dass Bronstein in Ebenfurth aussteigen müsse, um die Linie zu wechseln. Mit der Raaber Bahn müsse er sodann nach Neufeld an der Leitha fahren, von dort ginge es nach Wulkaprodersdorf und Baumgarten, ehe endlich, nach Myriaden von Äonen, wie der feiste Mensch mit zweideutigem Grinsen verlauten ließ, Ödenburg erreicht sei. Natürlich hatte sich Bronstein am Fahrplan kundig gemacht, und die ganze Reise war objektiv kaum der Erwähnung wert. Von Wien bis Ebenfurth waren es 38 Kilometer, für welche der Zug 47 Minuten benötigte. Punkt 15 Uhr ging der Anschlusszug nach Raab, wobei dieser 32 Kilometer bis Ödenburg zurückzulegen hatte, wo er planmäßig um 15.45 Uhr eintreffen sollte. Lauschte man jedoch den Emanationen des Kahlkopfs, dann war der Vergleich mit den Irrfahrten des Odysseus gar nicht so abwegig. Und wieder einmal seufzte Bronstein. Laut und deutlich.
»Na ja«, hörte er den anderen resümieren, »mir kann’s wurscht sein. Ich steig in Hennersdorf aus.«
Bronstein atmete auf. Der Zug hielt eben in Inzersdorf. Schon an der nächsten Haltestelle würde er von seinem unfreiwilligen Kumpan befreit sein. »Wollen S’ wissen, was ich in Hennersdorf mach’?«, fragte der einstweilen.
»Eher ned«, entgegnete Bronstein und verschränkte die Arme vor dem Bauch. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und ließ sein Gegenüber schmollend zurück. Fünf Minuten später war Hennersdorf erreicht, und Bronstein hatte das Abteil für sich allein.
Beinahe wäre er eingeschlafen, doch der Schaffner wies ihn noch rechtzeitig darauf hin, dass er in Ebenfurth umsteigen müsse, und so befand sich Bronstein alsbald auf einem verödeten Bahnsteig, neben dem scheinbar sinnlos eine verrostete Dampflok vor sich hin schmauchte. Bronstein war sich bei ihrem Anblick sicher, dass sie Kaiser Ferdinand schon nach Budweis gebracht hatte, doch ihm blieb keine andere Wahl, als sich diesem alten Schlachtross anzuvertrauen. Wieder zündete er sich eine Zigarette an, dann setzte sich die Lokomotive samt den beiden Waggons, die an sie angekoppelt waren, auch schon in Bewegung.
Sie hatte kaum Fahrt aufgenommen, als der Lokomotivführer schon wieder ein Bremsmanöver einleiten musste, da sich der Bahnhof von Neufeld kaum zwei Kilometer von Ebenfurth entfernt befand.
Danach kamen zwei kleine Weiler, ehe sich endlich der Bahnhof von Ödenburg in Bronsteins Gesichtsfeld drängte. Dieser sah aus wie unzählige andere auf dem Gebiet der einstigen Monarchie, und wie in den meisten Fällen musste man ein gutes Stück Weges zurücklegen, ehe man ins eigentliche Ortszentrum kam. Bronstein dachte kurz darüber nach, sich eine
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