Mischpoche
Während er sich Gedanken darüber machen konnte, was er wem zu Weihnachten schenkte, ging in Berlin offensichtlich alles den Bach hinunter. Aus lauter Verzweiflung über das unsagbare Elend, das dort herrschte, plünderten aufgebrachte Arbeitslose die Lebensmittelgeschäfte, während sich gleichzeitig Bettler mit Polizisten prügelten, da diese ihnen die allerletzte Einkommensquelle verschließen wollten. Für eine Reihe von Einbrüchen in Kürschnereibetriebe hatten die Berliner Kollegen ein Kopfgeld von 8.000 Mark ausgesetzt, was dazu führte, dass die alteingesessenen Verbrecherbanden an der Spree nun eifrig nach den Dieben fahndeten, da, wie es in der Zeitung hieß, die ausgesetzte Belohnung bei Weitem die gegenwärtigen Verdienstmöglichkeiten der Einbrecher übersteige. Und wenn man dann auch noch bedachte, dass sich im Reich praktisch täglich Kommunisten und Nazis gegenseitig über den Haufen schossen, ohne dass die Exekutive da noch einzugreifen vermochte, dann musste man wahrlich nicht nur an Weihnachten ein Stoßgebet gen Himmel schicken, dass man im gemütlichen Wien und nicht im wilden Norden leben durfte. Und besonders froh war Bronstein, dass sich der Mord an dem amerikanischen Medizinstudenten, der die Abteilung gestern noch beschäftigt hatte, als Selbstmord herausgestellt hatte. So konnte die Akte rasch geschlossen und der Adventkranz wieder angezündet werden.
»Fünfe ist’s. Ab sofort wird das Telefon nicht mehr abgehoben! Cerny, wir haben’s geschafft. Frohe Weihnachten noch einmal und guten Rutsch!«
Beide standen auf, kramten nach ihren persönlichen Besitztümern und legten dann ihre Mäntel an. Vor der Bürotür schüttelten sie sich noch einmal fest die Hände, dann schickten sie sich an, das Amtsgebäude zu verlassen.
»David, bist das du?«
Die Stimme kam Bronstein irgendwie bekannt vor. Auch das Gesicht des Mannes, der ihn da eben vor der Polizeidirektion angesprochen hatte, war ihm irgendwie vertraut. Vor allem der markante Schnurrbart rief Erinnerungen wach. Das war doch der …
»András! Ja gibt’s denn so etwas? Was machst denn du in Wien?«
András Nemeth räusperte sich umständlich: »Du, das ist eine etwas längere Geschichte. Hast du vielleicht ein wenig Zeit?«
Mein Gott, dachte Bronstein, er hatte alle Zeit der Welt! Auf ihn wartete ja ohnehin kein Mensch, und da war es allemal attraktiver, mit einem ehemaligen Regimentskameraden über alte Zeiten zu schwadronieren, als mit verbitterter Bangigkeit alleine über die kommenden Zeiten zu räsonieren.
»Aber sicher doch. Komm, geh’n wir auf einen Kaffee!«
Es stellte sich heraus, dass Nemeth schon seit dreizehn Jahren in Österreich lebte und sogar Staatsbürger der Republik geworden war. Im 19er Jahr hatte Nemeth in Szombathely auf das falsche Pferd gesetzt und sich der damaligen Räteregierung zur Verfügung gestellt. Als diese dann blutig von den Horthy-Faschisten niedergerungen worden war, floh Nemeth, für den die Luft in seiner Heimatstadt mehr als ungesund zu werden versprochen hatte, eilends über die grüne Grenze nach Österreich, wo er zuerst in Bruck an der Leitha untergetaucht war, ehe er durch alte Freunde eine Anstellung bei den Staatsbahnen im Verschub erhalten hatte, für die er seit nunmehr über zwölf Jahren arbeitete.
»Na, so etwas, der Nemeth Anderl ein waschechter Österreicher! Wer hätt’ sich das gedacht!«, lachte Bronstein. »Kannst dich noch erinnern, wie du mir im 18er Jahr die Hölle heißgemacht hast? Da hätten wir uns wohl beide nie träumen lassen, dass du nicht bis ans Ende deiner Tage ungarischer bleibst als Gulyas und Tokajer.«
»Na ja«, zuckte Nemeth nur mit den Schultern, »es kann der Beste nicht in Frieden leben …«
»Schon klar«, schränkte Bronstein ein, »wir haben ja alle mitbekommen, wie es bei euch da drüben …, also wie es in Ungarn zugegangen ist, meine ich. Aber sag’, warum hast dich denn all die Jahre nicht gemeldet bei mir?«
»Weißt du«, druckste Nemeth herum, »in Ungarn werde ich immer noch polizeilich gesucht. Es gibt auch ein Auslieferungsbegehren. Und … na ja …«
»Geh, bitte, Anderl, jetzt enttäuschst du mich aber! Glaubst du wirklich, ich hätte dich denen zum Fraß vorgeworfen? Aber echt jetzt! Solange du bei uns nix anstellst, sind wir die besten Freunde. So wie damals in Galizien! Aber, wennst dich vor mir gefürchtet hast, sag, warum besuchst mich dann ausgerechnet jetzt?«
Nemeth sah nach links und rechts, beugte sich dann vor
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