Miss Daisy Und Der Tote Auf Dem Wasser
den Rasen. Sie riß die Tür auf und setzte sich neben ihn.
Seine grauen Augen, deren merkwürdig durchdringender Blick jeden Verdächtigen vor Furcht erzittern ließ, lächelten sie voller Wärme an. Die schweren, dunklen Augenbrauen, mit denen er Skepsis oder Mißfallen auf das deutlichste aus- drücken konnte, lagen glatt und friedlich auf seinem Antlitz. Seine Haare sprangen immer noch frisch von seinen Schläfen auf, in dieser herrlichen Weise, die förmlich von ihr verlangte, daß sie mit den Fingern hindurchfuhr.
Das tat sie dann auch. »Du hast dich ja gar nicht verändert.« Alec lachte. »Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir ge- rade den letzten Sonntag gemeinsam verbracht und waren mit Belinda im Zoo.«
»Aber ich hab dich dann eine ganze Woche lang nicht gesehen!«
»Und jetzt haben wir zwei ganze Tage vor uns.« Alec konnte diesen ehrlichen blauen Augen, die ihn so hoffnungs- voll anstrahlten, einfach nicht widerstehen. Er küßte sie. Noch bevor ihre Lippen sich berührten, merkte er jedoch, daß die Dame, mit der seine Verlobte sich eben noch unter- halten hatte, sie beobachtete. Auf die Entfernung konnte er es nicht so gut erkennen, doch hoffte er, daß der Aus- druck auf ihrem Gesicht der eines nachsichtigen Amüse- ments war.
Der Kuß fiel entsprechend kurz aus. Mit einem verlegenen Hüsteln hob er den Kopf und erwiderte das Winken der Dame. »Deine Tante?« flüsterte er.
»Ja. Jetzt sieh mal nicht so entsetzt aus. Tante Cynthia ist viel einfacher im Umgang als Mutter.«
»Ich sehe gar nicht entsetzt aus, du kleines Biest. Detective Chief Inspectors wissen gar nicht, wie das geht.«
»Dann hast du es aber ziemlich gut gespielt. Fahr mal bitte vors Haus, dann gehen wir zu Fuß zurück, und ich stell dich vor.«
Alec tat wie befohlen und parkte neben einem grünen Lea- Francis, einem eher billigen, aber sehr sportlichen Fahrzeug. Jeden x-beliebigen, vom Pfad der Tugend abgewichenen Duke konnte er mit Leichtigkeit festnehmen, aber Daisys aristokra- tische Verwandtschaft ließ ihn doch regelmäßig innerlich zu- sammenschrumpfen. Diese Menschen machten ihn unsicher, und seine Zweifel meldeten sich auch diesmal zurück. Sollte Daisy nicht lieber mit einem eleganten jungen Herrn in einem Zweisitzer unterwegs sein, anstatt neben einem biederen Copper zu sitzen, der zehn Jahre älter war als sie und sie in einem biederen, für die Mittelschicht typischen Wagen her- umkutschierte?
Ihr selbst allerdings schien das nichts auszumachen. Freundlich glättete sie sein Haar, wo sie es eben durcheinan- dergebracht hatte. Er richtete seine Krawatte – die vom Royal Flying Corps, die er immer umband, wenn er mit den oberen Zehntausend zu tun hatte – und ging zur Beifahrertür, um sie für seine Verlobte zu öffnen.
Daisy nahm seine Hand, als sie über den Rasen schritten. Ihre warme kleine Hand in der seinen verlieh ihm Selbstver- trauen, und doch regten sich seine Zweifel erneut. Als er in ihrem Alter war, damals vor dem Großen Krieg, wäre selbst ein verlobtes Paar niemals Hand in Hand unter die Augen einer Familienangehörigen getreten. Jedenfalls nicht in seinen Kreisen. Aber wer wußte schon, welche Sitten diese Stagenos unter sich pflegten?
Lady Cheringham schien jedoch nichts daran zu finden, sondern lächelte ihn freundlich an. Sie zog ihre schmudde- ligen Gärtnerhandschuhe aus, um ihm die Hand zu geben, während Daisy ihn vorstellte: »Tante Cynthia, das ist Alec Fletcher.«
»Willkommen bei uns, Mr. Fletcher! Ach so, muß ich Sie gar Detective Chief Inspector nennen?«
»Du liebe Zeit, bitte bloß nicht! Ich bin ganz und gar außerdienstlich hier, Lady Cheringham. Was für einen wun- derschönen Phlox Sie da haben!«
»Ist wirklich ganz gut geraten, nicht wahr?« stimmte Ihre Ladyschaft zu und betrachtete zufrieden die bunten Rabatten in ihrem Garten. »Aber ich hab Daisy versprochen, Sie nicht mit Gärtner-Gesprächen von Ihren eigentlichen Vorhaben ab- zuhalten. Sie wollen ja sicherlich zum Fluß, um das Rennen zu sehen.«
Auf dem Weg zurück zum Haus sagte Daisy empört: »Du stilles Wasser aber auch! Ich wußte gar nicht, daß du Phlox von Fingerhut unterscheiden kannst.«
»Bescheidenheit ist eben eine Zier. Mein Vater war passio- nierter Gärtner. Wenn ich mehr Zeit hätte, wäre ich das auch.«
»Übrigens sollte ich dir sagen, daß Blumen und Pflanzen und Gespräche darüber im allgemeinen und besonderen der direkte Weg in Tante Cynthias Herz sind.«
»Mein liebes, höchst geschätztes
Weitere Kostenlose Bücher