Miss Daisy Und Der Tote Auf Dem Wasser
vollkommen unsabotierten und heilen Viererboot, das kopfüber auf seiner Stellage ruhte. Es paßte gerade so in das Bootshaus, sein glänzender Rumpf er- streckte sich entlang der gesamten Wand gegenüber.
Darin lag wohl keine Leiche versteckt. Immerhin. Aber sie würde ganz in das Häuschen hineingehen müssen, um sich alles richtig anzuschauen.
Die großen Türen zum Fluß waren geschlossen und ver- riegelt. Das Licht der Taschenlampe wurde von dem stillen, dunklen Wasser des Kanals in der Mitte reflektiert, in dem die Boote hineingeschoben wurden. Auch dort dümpelte keine Leiche.
Kein Stöhnen oder Grunzen, kein Atmen drang an ihre lau- schenden Ohren. Auf Zehenspitzen kam sie an den fröhlich gestreiften, direkt neben der Tür auf den Dielen aufgetürmten Kissen der Skiffs vorbei, die Taschenlampe hin und her
schwenkend. Nichts hinter dem Ständer mit den Rudern
außer ein oder zwei zusammengedrehte Seile, Eisenringe und
große Bahnen Leinwand, mit denen die Skiffs zu Zelten auf
dem Wasser verwandelt werden konnten. Dann lag da noch
weniger leicht zu identifizierendes Zeug, das sicherlich auch
irgendwie mit dem Rudersport zusammenhing. Im Schatten
hinter dem Vierer war nichts Verdächtiges zu sehen.
Daisy kehrte zum schwarzen Wasser zurück. Das Licht der
Taschenlampe drang nicht hindurch. Wenn Bott da unten lag,
dann konnte man ihm nicht mehr helfen. Auf keinen Fall
würde sie jetzt anfangen, mit einem Bootshaken nach ihm
herumzustochern!
6
Trotz der unruhigen Nacht – vielleicht aber auch wegen ihr – erschien Daisy als eine der ersten unten im Speisezimmer zum Frühstück, wo sie Cherry und Leigh vorfand. Glück- licherweise, denn das beruhigte sie sehr, folgte ihr Bott auf dem Fuße.
Auf seinem Gesicht waren keine Spuren zu sehen, die von einem Zusammentreffen des selbigen mit DeLanceys Faust gekündet hätten. Seine Übellaunigkeit überschritt auch nicht das gewohnte Maß. Er begrüßte Daisy und erzählte ihr, er würde nach dem Frühstück nach Henley wandern, um sich dort mit Miss Hopgood zu treffen.
»Auf dieser Seite gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel, und über die Straße ist es ja ganz schön weit«, stellte Cherry fest. »Ich kann dich doch in einem der Skiffs rüberrudern«, bot er Bott freundlich an.
Bott warf ihm einen etwas mißtrauischen Blick zu, be- dankte sich aber durchaus höflich.
Rollo, Poindexter und Wells gesellten sich zu ihnen.
»Tish ist noch nicht unten?« fragte Rollo. Er wirkte ein we- nig besorgt. Richtig, dachte Daisy, seine Aufgabe als Mann- schaftskapitän war unerwartet anstrengend geworden, und dann hatte er bestimmt auch mit seinen ganzen Zukunftsäng- sten zu kämpfen.
»Als ich aufgestanden bin, schlief sie noch«, sagte sie ihm. »Gestern abend war sie ganz schön müde. Tante Cynthia hat ja die Gastgeberinnenpflichten im wesentlichen auf sie ab- gewälzt, und das ist sie nicht gerade gewohnt. Machen Sie sich keine Sorgen, ich seh schon zu, daß sie rechtzeitig zum Ren- nen aufsteht.«
Es würde doch bestimmt einer der anderen Ruderer für De- Lancey einspringen können, wenn das nötig werden sollte? Er war schließlich nicht unersetzlich, wie der Steuermann.
Als nächster erschien Fosdyke im Frühstücksraum, gerade von seinem Morgenlauf zurückgekehrt. Sorgsam vermied er es, Daisy anzuschauen. Während er sich am Sideboard den Teller füllte, sagte sie beiläufig: »Vielleicht sollte ich mir doch ein Sausage gönnen«, und gesellte sich zu ihm.
Sie hob nur die Augenbrauen.
»Schlief noch, als ich gegangen bin«, zischte er ihr aus dem Mundwinkel zu. »Vor einer halben Stunde ungefähr. Ich weck ihn dann schon, wenn er nicht bald kommt.«
»Sie sind wirklich einfach großartig«, sagte Daisy, und er errötete.
Bott ging mit Leigh, der angeboten hatte, ihn an Cherrys Statt überzusetzen, denn der hatte schließlich an dem Mor- gen noch ein Rennen zu rudern. Dottie und Meredith kamen in das Speisezimmer. Immer noch kein Anzeichen von Tish oder DeLancey. Die Zeit drängte ja noch lange nicht, beru- higte sich Daisy, während sie beobachtete, wie Fosdyke durch den Essensberg auf seinem Teller pflügte.
Endlich trat DeLancey ein. Einen Augenblick stand er in der Tür, die Hand am Rahmen, und warf aus triefeligen Augen einen Blick um sich. Dann schwankte er unsicher in den Raum.
Rollo sprang sofort auf und fixierte ihn wütend. »Was ist denn mit dir los?«
»Aber gar nichts«, erwiderte er schwerfällig. »Hab nur ein bißchen Kopfweh. Wird sich leicht mit
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