Miss Emergency
»Sinnlos«, entgegnet Jenny. »Tu dir das nicht auch noch an!« Verkehrte Welt.
Auch auf unserer Straße liegen inzwischen die ausrangierten Weihnachtsbäume. Doch gerade als meine Freundinnen über den Verlauf des Abends grübeln – Tom hat Isa am Telefon abgewehrt und Jenny will sie davon abhalten, trotzdem zu ihm zu fahren –, bringen mich die traurigen Bäumchen auf eine Idee.
Ich schicke Jenny in die einzig gute Videothek der Stadt, ein Weg, der bestimmt eine Stunde dauert. Sie lässt sich ein wenig bitten, aber da ich behaupte, dass nichts meine Depression bremsen kann außer diesem einen speziellen, sonst nirgendwo verfügbaren Fünfziger-Jahre-Film, gibt sie schließlich nach.
Kaum ist Jenny wieder in Richtung S-Bahn verschwunden, unterbreite ich Isa meinen Plan. »Du spinnst«, sagt sie entgeistert. Aber sie lässt mich nicht hängen.
Wir arbeiten wie die Verrückten, schleppen und arrangieren, schmücken und kochen. Es ist, als könnte ich meine unerträgliche Traurigkeit wegarbeiten. Als Jenny eine Stunde später mit dem schwer erreichbaren Film nach Hause kommt, ist alles fertig.
»Komm rein«, sage ich an der Tür und ziehe meinen elchgeraubten Norwegerpullover glatt, »Weihnachten 2.0.«
Die Wohnung ist ein Wald. Wir haben alle Weihnachtsbäumeder Straße nach oben gebracht. Und wir haben sie alle noch einmal geschmückt. Es gibt Punsch und Chorgesang und Bescherung. Isa vermacht Jenny das silberne Jäckchen, das ihr eine für Isas Stil vollkommen unsensible Cousine geschenkt und das Jenny so bewundert hat. Und ich habe vorhin in aller Schnelle Jennys Lieblingsfriseur aus dem Feierabend geklingelt und ihn einen Gutschein ausstellen lassen, damit Jenny ihre ruinierten Haare fachmännisch restaurieren lassen kann.
Irgendwann, nach sehr viel Punsch, schickt Jenny ein Foto von uns vor dem Weihnachtsbaum-Konglomerat per MMS an ihre Eltern. »Meine neue Mami und mein neuer Papi sorgen sehr gut für mich, danke, ihr seid frei!« Und statt sie aufzuhalten, streiten Isa und ich, wer der Papi sein muss. Aber das macht nichts. Der heutige Tag hat uns allen genug Haltung abverlangt.
I ch soll mich mit dem charmanten Dr. Gode trösten, finden meine Freundinnen. Und dass ich die Einzige wäre, der sie ihn beide gönnen würden. Ich habe keine Lust darauf. Weder auf den Ball, bei dessen Ankündigung ich mir so idiotische Mädchenträume erlaubt habe, noch auf einen zusätzlichen, unnötigen Abend im Krankenhaus.
Das kann ich nicht. Noch nicht. Im Moment hilft nur Verdrängung.
Isa und Jenny verstehen nicht, dass ich Dr. Godes Einladung ausschlagen will. Weil er der attraktivste Mann auf unserer Station ist. Und weil sie finden, dass ich nach Tobias’ Erklärung, ich könne keine gute Ärztin werden, wenn wir zusammen sind, nichts Besseres tun könnte, als eine unfassbar großartige Ärztin zu werden – und trotzdem mit Vorgesetzten auszugehen. Das Erste leuchtet mir ein. Wenn ich für meine Karriere auf Tobias verzichten soll, wäre es idiotisch, sich jetzt vor dem Krankenhaus zu drücken. Und wenn ich je über ihn hinwegkommen soll, muss ich ausgehen. »Und dann«, sagt der Kopfteufel, »sieht er, dass sehr wohl BEIDES möglich ist.« Nur vor einer Frage drücke ich mich: Was werde ich tun, wenn sich herausstellt, dass Tobias’ Sorge sinnlos war? Wenn die anderen es jetzt vollkommen in Ordnung finden, dass ein Arzt eine PJlerin in aller Öffentlichkeit ausführt?
Gut, das tun sie nicht. Es gibt Gerede, und zwar sofort. Ich habe Dr. Gode erst vor wenigen Minuten – und unter vierAugen – gesagt, dass ich seine Einladung annehme. Aber Schwester Jana ist schon informiert. »Für deine Karriere wird das nicht gut sein«, warnt sie mich. »Dr. Thiersch wird das sicher nicht gutheißen. Und sie erfährt es ganz bestimmt!«
Ich traue mich »Na von dir wahrscheinlich« zu antworten. Jana sieht mich an; sie wirkt nicht beleidigt, aber plötzlich so ernst. »Du willst nicht verstehen, dass ich es gut meine, oder?« Nein, tut mir leid, das fällt mir tatsächlich schwer. Doch als Jana gegangen ist, suche ich doch unsicher nach dem Stationsarzt und frage, ob seine Einladung wirklich eine so gute Idee war – und ob er weiß, dass darüber bereits getratscht wird. Der neue Fatalismus, der mich dazu bewogen haben muss, seiner Einladung zuzusagen, macht mich vollkommen unantastbar. Mir ist ganz egal, wer über mich redet. Aber Dr. Gode vielleicht nicht.
»Ich selbst habe es rumerzählt«, lacht er
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