Miss Emergency
bald nachzukommen, damit sie wenigstens heute noch zu Tom kann. Ich habe es wirklich fast unhörbar geflüstert. Aber Jenny macht zum ersten Mal seit 24 Stunden den Mund auf und sagt: »Geht zu euren Männern, ihr Grazien. Ich will sowiesokeinen sehen. Wer vor zwölf nach Hause kommt, wird von mir wieder rausgeworfen.«
Ich umarme sie, sie lässt es geschehen. Und ich verspreche, es auf den Rausschmiss ankommen zu lassen und trotzdem um zehn daheim zu sein.
Den ganzen Weg in den unteren Flur plappert meine innere Stimme wie aufgezogen. Ich kann es kaum erwarten, Tobias von meinem Beinahe-Ausrutscher in der Mittagspause zu erzählen und die Innenstimme hat bereits alles in eine lustige, hochdramatische Geschichte formuliert, mit der ich uns gleich beide herrlich amüsieren werde. Das Geheimnis war noch nie so aufregend.
Ich klopfe, er öffnet, ich muss jetzt schon grinsen.
Ich will ihn umarmen, doch er tritt beiseite, wartet, bis ich in seinem Büro bin und schließt die Tür. Ja, natürlich. Uns könnte ja jemand sehen. (Hallo?! Es ist EINE MINUTE her, dass diese Gefahr der Höhepunkt einer lustigen Geschichte war!)
»Setz dich«, sagt er. Ich will mich nicht hinsetzen, ich will dich umarmen, merken, dass du mich vermisst hast, der Tag war so unerträglich lang ohne dich!
»Setz dich«, wiederholt er.
Ich lasse mich auf einer Sesselkante nieder. Der Raum wird kleiner, immer enger, die Wände kommen auf mich zu. Irgendwas stimmt nicht.
Er setzt sich mir gegenüber und hält den kleinen Tisch mit beiden Händen fest, als würde das blöde Möbel sonst davonfliegen. Oder im Boden versinken. So wie ich.
Alles, was dann kommt, rauscht an mir vorbei. Seine Worte verfliegen im Raum, hallen von den Wänden wider und stürzen sich auf mich. Ich weiß schon am Ende jedes Satzes nicht mehr, was er gerade gesagt hat. Dass es nicht geht. Dass es ihm nicht leichtfällt. Aber dass es nicht geht.
Ich bekomme keine Luft. Was tut er? Wieso?
»Es ist unverantwortlich«, sagt er. »Wir hätten es längst beenden sollen.«
Ich verstehe überhaupt nicht, was hier passiert.
Aber unser Geheimnis … Wir haben uns doch gerade erst gefunden … Niemand weiß es …
»Arzt zu sein ist eine Berufung«, sagt er. »Du darfst das nicht gefährden. Für nichts.«
Jemand in mir denkt plötzlich, dass es das wert ist. Dass ich es verkraften kann, keine Ärztin zu sein. Bin das noch ich?
»Ich würde es mir nie verzeihen, dir im Weg gestanden zu haben«, sagt er. Mir? Er will sich trennen, damit ICH Ärztin werden kann? Ich bin keine Ärztin, Tobias, ich bin gerade gar nichts mehr.
Er schüttelt den Kopf. »Es war verantwortungslos von mir. Die ganze Zeit das Gefühl, dass es schrecklich falsch ist. Ich muss jetzt endlich das Richtige tun. Eine klare Entscheidung.«
Irgendwann stehe ich einfach auf und gehe und ich glaube, er war mitten im Satz.
Sein Geschenk, die Zeilen in meinem Buch, unser letzter schöner Tag. Das alles war kein Neuanfang. Nur ein Ende.
Ich fahre nach Hause. Ich möchte nie wieder zur Arbeit gehen.
D as Leben ist erbärmlich. Wir fangen uns heute nicht einmal auf, sondern klammern uns aneinander wie Ertrinkende. Jenny und ich liegen in Jennys Bett und haben Fernseher und Radio gleichzeitig laufen.
»Also hat er Schluss gemacht«, sagt Jenny matt.
Ja. Aber ich verstehe es immer noch nicht. Was ist passiert zwischen gestern und heute, zwischen »Ich kann es kaum erwarten« und »Es muss zu Ende sein«? Was habe ich verpasst? Wie konnte das passieren, Lena? Dass du an einen Anfang glaubst und deine Träume mit dir durchgehen? Und er einen Abschied beschließt.
»Aber irgendwie hat er sich doch wenigstens aus Liebe gegen dich entschieden«, seufzt Jenny. »Ich hab nicht mal so einen blöden Trost …«
Ich will das nicht hören. Ich will einfach nur hier liegen. Ich drehe das Radio noch lauter, manchmal kann man dann seine Gedanken nicht mehr ganz so gut hören.
Als Isa kommt, schöpfe ich Hoffnung. Kann sie nicht irgendwas finden, um unsere Traurigkeit zu lindern? Sagen, dass geteiltes Leid einen immer nur noch mehr runterzieht?
Isa schaltet das Radio aus, den Fernseher, setzt sich zu uns. »Das Leben ist mies«, sagt sie und dann fängt sie an zu weinen.
Isas Optimismus war übertrieben, neues Jahr, der alte Mist. Tom findet keinen Job und ist mit jedem erfolglosen Bewerbungsgespräch verdrießlicher geworden. Allmählich scheint erIsa nachzutragen, dass er ihretwegen die Chance in München vertan
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