Miss Emergency
werfen sie ihre abgelegten Christbäume auf die Straße, überall liegen die ausgedienten Bäumchen am Gehwegrand. Der Anblick ist trostlos. Das Leben kommt uns, wenn möglich, heute noch erbärmlicher vor als gestern.
D er heutige Tag verlangt uns allen ein extremes Maß an Haltung ab. Die Traurigkeit ist das eine. Die flotten Sprüche zu unseren neuen Frisuren sind eine Dreingabe, auf die wir definitiv verzichten könnten.
Als wir vor Dienstbeginn bei Ruben um einen Kaffee betteln gehen, prustet er aus vollem Hals los. »Seid ihr vollkommen durchgeknallt?!«, fragt er lachend.
»Frag das die Männer in unserem Leben«, entgegnet Jenny dumpf.
»Oder nicht mehr in unserem Leben«, ergänze ich.
Zynismus war noch nie etwas für mich. Ich könnte schon wieder losheulen.
Ruben hört sofort auf zu lachen, kocht uns Kaffee und stellt Kuchen auf den Tresen. Dann nimmt er die Auffangschale aus der Kaffeemaschine und stürzt sie auf seiner Theke um. Der Kaffeesatz klumpt auf dem Glastresen. Wir sehen ihn entsetzt an, doch Ruben scheint sich überhaupt nicht für die Krümel auf den Sandwiches zu interessieren. Er schaut konzentriert in den Kaffeesatz. »Für dich geht es gut aus«, sagt er dann und zeigt auf Isa. Sie wirkt perplex, aber das vorsichtige Aufleuchten ihres Gesichts zeigt, dass sie ihm ein bisschen glaubt. Glauben will.
»Du hast es zwar nicht verdient«, deutet Ruben auf Jenny, »aber auch du kriegst es wieder hin.«
Dann sieht er mich an. »Du nicht.«
Ich glaube nicht an Kaffeesatzleserei. Zumindest nicht, wennsie etwas Schlechtes prophezeit. Wenigstens gebe ich mir alle Mühe, nicht daran zu glauben. Mein Tag ist trotzdem ruiniert.
Ich nehme zwei neue Patienten auf und bereite Frau Jahn auf die OP am Nachmittag vor. Ich spreche nur das Nötigste. Alles hier schreit TOBIAS TOBIAS TOBIAS. Der Fahrstuhl, die Fußbodenfliesen, selbst mein Glückskuli, mit dem ich die Anamnesebögen ausfülle. Ich kann es nicht ertragen. Ich lege den Stift weg und suche mir einen anderen. Das Glück ist aus.
Eine Minute später schiebe ich den Ersatzkuli von mir und greife reumütig doch wieder zu meinem alten Schreibkumpan, damit nicht alles noch schlimmer wird. Obwohl ein »noch schlimmer« gerade gar nicht ausdenkbar scheint. Aber immerhin hat mir der Glückskuli auch durch die Prüfungen geholfen. Gib mir irgendwas, blöder Stift, gib mir ein Zeichen, dass irgendwann alles wieder gut wird, dass du wieder Glück bringen wirst!
»Darf ich kurz Ihren Stift leihen?«, fragt in diesem Moment Dr. Gode über meine Schulter. NEIN! Den brauche ich selbst GANZ DRINGEND! Möglichst unauffällig krame ich nach dem verschmähten Ersatzstift und reiche ihm diesen. Dr. Gode macht eine Notiz, legt den Stift wieder hin und fragt: »Haben Sie vielleicht Lust, zum Ärzteball zu gehen?« Ich starre den Glückskuli an. Das soll es sein?! Du bist ja wohl nicht gescheit!
Wer hätte gedacht, dass der OP-Saal eines Tages der einzige Bereich sein könnte, in dem ich mich sicher fühle? Aber heute ist es so; sobald ich den OP betreten habe, werden alle Widrigkeiten ausgeblendet und ich ganz ruhig. Die Schwester hilft mir in den sterilen Kittel, dann in die Handschuhe, ich fühle mich professionell. Frau Jahn ist schon in den OP gebracht worden, Miriam hat die Narkose bereits eingeleitet, das Bein ist auf der Halterung gelagert. Eine Schwester legt eine Blutsperre an, eine Manschette um den Oberschenkel, damit wir ohne größere Blutungsgefahr operieren können. Gemeinsam mit der OP-Schwester desinfiziere ich das Bein und decke das Operationsgebiet steril ab. Darüber hinaus muss ich nicht viel tun, ich halte die Kamera, damit der Chirurg das Kniegelenk von innen sehen kann, sonst nichts.Der Chirurg reseziert das kaputte Meniskusgewebe und fixiert das neue Implantat mit Nähten. Die Arthroskopie-Zugänge werden verschlossen, ich darf den Verband, die Wickelung und die Knieschiene anlegen, das war’s. Ich bin ein Profi.
Eine Stunde lang habe ich nicht an Tobias gedacht, nicht an meine traurigen Freundinnen, nicht an Frau Jahns Firma. Die Lena-Maschine im Einsatz.
Heute Abend verlasse ich das Krankenhaus im Eilschritt, Jenny und Isa haben auf mich gewartet und nehmen mich in ihre Mitte, als wir über den Vorplatz hasten. Sie schaffen es tatsächlich, mich davon abzuhalten, nach einem grünen Wagen auszuschauen. Und angesichts eines Parkplatzes zu heulen.
»Irgendwann musst du mit ihm reden«, sagt Isa. Ich glaube nicht, dass ich das kann.
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