Miss Emergency
»Was machst du denn hier?«
Und das bringt mich dazu, aufzusehen.
Tobias.
Er trägt keinen Anzug, nur seine Sportjacke. Und er steht direkt vor mir.
Ich bin eine Eissäule, eine Sandsteinfigur.
Alle, wirklich alle sehen her.
Ich habe mir nichts mehr gewünscht, als dass er jetzt hier wäre.
»Können wir gehen?«, fragt Tobias. Die Sandstein-Lena nickt.
»Tut mir leid, Friedrich«, sagt er und der Chefarzt wirkt so erstarrt wie ich. Wir sind ein Skulpturen-Kabinett.
Tobias legt den Arm um mich und führt mich aus dem Saal. Hundert Augen sehen uns nach.
Wir fahren. Ich kann nichts sagen. Tobias bremst vor seiner Wohnung, schließt die Tür auf, geht voraus. Ich laufe hinter ihm her wie eine Marionette.
Wir stehen in seinem Wohnzimmer, er hat immer noch nichts gesagt. Warum bringt er mich hierher?
Er bleibt am Fenster stehen, sieht hinaus.
Vor einer Viertelstunde bin ich mit einem vergnügten Stationsarzt durch einen Tanzsaal gewirbelt. Irgendwie habe ich den Sprung zwischen diesen beiden Welten noch nicht geschafft.
Ich betrachte die Bäume vor seinem Fenster, irgendetwas in mir zählt die Äste. Vollkommen ratlos. Ich müsste glücklich sein.
»Was soll denn jetzt werden?«, frage ich.
Das ist das Erste, was ich sage und es klingt jämmerlich. Meine Stimme ist kratzig, als würde ich sie zum ersten Mal verwenden.
Er fährt sich durch die Haare, durch das Gesicht, eine erschöpfte Geste.
Sag was! Warum bist du dorthin gekommen, warum hast dumich zu dir geholt, wenn du jetzt nicht mehr weiterweißt? Ich merke, dass ich weine und weiß nicht, wie lange schon.
In der Fensterscheibe spiegelt sich eine Frau im Abendkleid. Unerträglich, dass ich immer noch dieses Kleid trage.
Endlich dreht er sich um. Er sieht müde aus, verzweifelt.
»Es tut mir leid«, sagt er. »Ich konnte nicht anders. Seit Wochen musste ich damit umgehen, dass ich dich nicht bei mir haben kann. Nie mehr als ein Blick, immer nur wenige Stunden zusammen. Aber ohne dich … Ich arbeite nur noch mit halber Kraft. Was das Wichtigste in meinem Leben war, steht plötzlich hintan. Nichts funktioniert mehr.«
Du musst dich nicht entschuldigen. Ich habe mir nichts mehr gewünscht.
Er kommt zu mir. Hält mich fest. Endlich.
Ich lasse mich fallen.
»Wir werden das schon durchstehen«, sagt er irgendwann. Es ist still im Zimmer.
»Kündigen«, sagt er, »die Klinik verlassen. Das ist das einzig Mögliche.«
Niemals. Ich werde nicht weggehen. Doch als ich das sage, schüttelt er den Kopf, so weit weg.
»Ich werde gehen«, sagt er. »Sonst hast du keine Chance.«
Nein. Ich will kein Opfer, nicht so eins. Ich möchte, dass einmal ein Glück keinen schrecklichen Preis kostet. Aber nicht in diesem Leben, Lena. Nicht in dieser Beziehung.
Ich will nicht, dass er geht. Will nicht, dass er denkt, dass uns nichts anderes übrig bleibt. Ihm nichts anderes bleibt.
»Wir können nur zusammen sein, wenn ich gehe.«
Zusammen sein. Er will mit mir zusammen sein.
Endlich.
Es bricht mir das Herz.
»Ich habe mich entschieden«, sagt er. »Es ist der einzige Weg.«
Wir halten uns aneinander fest. Stumm. Die Bäume rauschen im Wind, ich kann sie hören. Der stillste Abend meines Lebens.
I ch bin ein Niemand. Nicht unsichtbar, das wäre eine wahre Erlösung, sondern persona non grata. Dr. Gode ist beleidigt. Dr. Thiersch wütend. Selbst Schwester Jana schneidet mich. Ich fühle mich schrecklich allein, wie ausgestellt. Und ALLE reden darüber. Isa und Jenny geben sich Mühe, mir abzunehmen, was immer mich mit Kollegen in Kontakt bringen könnte. Trotzdem muss ich bei der Morgenbesprechung anwesend sein, bei der Visite mitlaufen, Informationen austauschen.
Bei der OP-Vergabe sieht Dr. Thiersch durch mich hindurch, ich werde selbstverständlich übergangen. Ich bin wieder am Anfang. Nein schlimmer: Ich bin am Ende.
Dr. Gode kann nicht umhin, mit mir zu reden, doch er spricht nur das Nötigste und schaut mich dabei niemals an. Ihm verzeihe ich noch am ehesten, schließlich haben wir ihn ziemlich blamiert. Den anderen kann ich nicht verzeihen, wie sie sich auf die Neuigkeit stürzen. Die PJler reden, die Schwestern tuscheln, wenn ich mich nähere, wird es still. Ich weiß nicht, wie lange ich das ertragen kann.
Ich will nichts mehr, als bei Tobias sein. Wissen, wie es ihm geht. Aber so schwer es mir fällt, vor der Mittagspause kann ich mich nicht davonstehlen. Ich ertrage den Vormittag, das Nervenkostüm hält bis kurz vor zwölf. Dann sagt
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