Miss Emergency
Toms Zusage erneuert – falls er die Stelle sofort antritt. Isa seufzt. »Und er ist doch zu klug und zu jung zum Taxifahren!« Noch vor drei Wochen konnten beide den Gedanken an eine Fernbeziehung nicht ertragen. Jetzt scheint es die einzige Chance zu sein, überhaupt eine Beziehung zu haben.
»Ich bin schrecklich stolz auf dich«, sage ich.
»Wart’s ab«, antwortet Isa. »Ich werde dir jede Woche von Montag bis Donnerstag von meiner Sehnsucht vorjammern.«
Das Kleid sitzt, die Frisur hält. Ich könnte hingehen. Äußerlich spricht nichts dagegen. Ich werde mich bestimmt nicht mit Dr. Gode über Tobias hinwegtrösten. Aber ich werde zum Ball gehen. Weil man manchmal einen klaren Schnitt machen muss. Chirurgenweisheit.
E s hätte ein schöner Abend werden können. Das Kleid saß heute noch besser als bei der Anprobe. Schon das war ein Wunder – normalerweise sehen Kleider, die bei der Generalprobe perfekt wirken, an dem Abend, an dem es drauf ankommt, immer plötzlich unmöglich aus. Jenny hat meine Haare noch besser hingekriegt als gestern. Dr. Gode ist schrecklich nett, lässt Prosecco bringen und bietet mir an, ihn beim Vornamen zu nennen – wenigstens für heute Abend. (Er heißt Bert, damit komme ich gerade noch klar.) Bert Gode tanzt schon beim zweiten Lied. Und er flirtet sogar.
Beim fünften Tanz kommt der Chefarzt an unseren Tisch, der offenbar gewohnheitsmäßig auf dem Ärzteball mit jedem weiblichen Gast eine Runde dreht. Mein Tanzschulwalzer lässt mich nicht im Stich, ich werde nicht übermäßig rot und trete dem Chef nicht mal auf den Fuß – und dann löst Dr. Bert ihn wieder ab. Beste Voraussetzungen für einen gelungenen Abend. Müsste ich nicht immerzu an Tobias denken.
Nach zwei Stunden erbiete ich mich, auch mal die Drinks zu holen. An der Bar lehnt eine wunderschöne dunkelhaarige Frau, die mich anlächelt und fragt, wie es mir geht. Dr. Al-Sayed, die Leiterin der Gynäkologie. Die geheimnisvolle Ärztin, die mir im letzten Tertial einmal das Leben gerettet hat. Oder zumindest die Zukunft. Die für mich da war, als mir in einer langen Nacht auf entsetzliche Weise klar wurde, was es bedeutet, Arzt zu sein. Ich hätte sie beinahe nicht erkannt.
Wir unterhalten uns fast eine Stunde, erst als Dr. Gode lächelnd, aber leicht verwirrt an der Bar auftaucht, fällt mir wieder ein, dass ich eigentlich nur kurz Getränke holen wollte. Er kennt Dr. Al-Sayed und grüßt sie fast ehrfürchtig. Als sie uns einen schönen Abend wünscht und weitergeht, fragt er mich sofort neugierig aus. Er muss mir nicht erklären, dass Dr. Al-Sayed im Allgemeinen nicht viel redet. Schon gar keine geschlagene Stunde lang. Mit einer PJlerin. Ich kann mir nicht erklären warum, aber irgendwie scheint sie mich zu mögen. Jedenfalls ist mein Eindruck von ihr ganz anders. Tja, manchmal habe ich für nicht-gesprächige Typen wohl doch ein Händchen.
Es passiert kurz vor Mitternacht. Die Stimmung ist gelöst, die Langweiler sind vielleicht schon gegangen. Bert und ich tanzen einen improvisierten Quickstep; gegen die eleganten Sprünge der Chefarztgattin sieht unsere Behelfsversion wahrscheinlich recht seltsam aus, aber wir amüsieren uns. Als Nächstes kommt ein langsames Lied. Und der Chefarzt klopft Bert Gode ab.
Ich bin ruhiger, der erste Tanz hat gut geklappt. Ich frage mich nicht, warum er mich ein zweites Mal auffordert. Bis der Chef mitten im Tanz sagt: »Ich bin froh, dass Sie meinem Rat gefolgt sind.«
Erst weiß ich nicht, wovon er spricht. Meint er die OPs? War das ein »Rat«? Mir kam es eher wie ein Befehl vor. Und warum ist sein Gesicht so ernst?
»Ich habe es gut gemeint«, sagt Dr. Dr. Kreuz. »So eine Verbindung macht Ihnen alles kaputt. Ihnen beiden.«
Meine Füße bewegen sich automatisch. Mein Kopf dreht sich.
Der Chefarzt sagt, dass er 30 Jahre Mediziner ist. Und dass die Liebe kommt und geht. Das Arztsein aber nicht. Ich kann ihm nicht mehr zuhören. Ich bleibe einfach stehen.
Deswegen also. Er hat es gewusst. Die Chefarztstimme im Büro. Tobias’ verschlossenes Gesicht.
Ich will nach Hause gehen. Und nie wiederkommen. Erst jetzt tut es richtig weh.
Ich gehe von der Tanzfläche. Jemand spricht mich an. BertGode. Na klar, er will wissen, was los ist. Wo ich hingehe. Ich weiß es nicht.
Jemand berührt mich am Arm. Dr. Al-Sayed. Ich kann sie nicht ansehen. Ich bin froh, wenn meine Füße noch so lange funktionieren, bis sie mich aus der Klinik getragen haben.
Hinter mir sagt jemand:
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