Miss Lily verliert ihr Herz
wunderschönes Märchen versetzt worden zu sein. All die Geschichten, die ihr Vater ihr einst über das Leben in der Hauptstadt erzählt hatte, fielen ihr ein. Sie seufzte auf. Es war ein Seufzer des Glücks …
Einige Zeit zuvor hatte sie ungläubig ihr Spiegelbild angestarrt. Am frühen Abend hatten Lady Dayle und deren Zofe sich ausgiebig mit ihr beschäftigt. Sie hatten sich ihrer Frisur gewidmet, an ihrem Kleid herumgezupft und ihr Gesicht gepudert, bis sie schließlich die Geduld verlor. Da hatte die Viscountess sie lachend zum Spiegel gezogen.
Nie hätte Lily gedacht, dass sie so bezaubernd aussehen könnte. Das Ballkleid war aus cremefarbener Seide gefertigt und mit Bändchen aus blassgrünem schimmerndem Stoff abgesetzt. Es gab feine Stickereien rund um den tiefen, aber nicht zu gewagten Ausschnitt. Der Schnitt schmeichelte ihrer Figur. Die sanften Farben brachten ihr rot-goldenes Haar und den ungewöhnlichen schieferblauen Ton ihrer Augen vorteilhaft zur Geltung.
Sie war sich ihrer Schönheit bewusst, als sie endlich vor Mr. und Mrs. Dawson trat, um sie mit einem Knicks und ein paar höflichen Worten zu begrüßen. Dann schloss sie Minerva in die Arme, die eine hinreißende Robe aus zartrosa Seidenflor trug.
„Ich bin so aufgeregt“, flüsterte die junge Braut.
„Wussten Sie, dass so viele Gäste geladen waren?“, gab Lily leise zurück.
„Ja, natürlich. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass alle kommen würden. Doch anscheinend hat es sich herumgesprochen, dass wir etwas Besonderes planen.“
„Wo sind die kleinen Sängerinnen?“
„Oben. Meine Nichte Claudette kümmert sich um sie. Sie liebt Kinder und ist jetzt damit beschäftigt, sie anzuziehen und ihnen die Haare zu richten.“
„Sind die Mädchen brav?“
„Ich glaube, sie genießen es, einmal im Mittelpunkt zu stehen.“
Lily musste weitergehen und stand nun vor Minervas Verlobtem, Lord Lindley. „Miss Beecham“, sagte er, „Sie sehen beinahe so hinreißend aus wie Minerva. Ich hoffe, Sie genießen den Abend.“
Gleich darauf gesellte Lily sich wieder zu Lady Dayle, die Mrs. Montague in ein Gespräch über die Zukunft der Waisen verwickelt hatte. Eine Weile hörte sie den beiden älteren Damen zu. Doch dann verabschiedete sie sich mit einem Lächeln und begab sich zum Ballsaal. An der Schwelle blieb sie stehen. Ihr war, als könne der nächste Schritt bedeutsam für ihr gesamtes zukünftiges Leben sein. Ja, vor ihr lag eine neue Welt, nicht die ihres Vaters, nicht die ihrer Mutter, sondern ihre eigene. Sie holte tief Luft, betrat den Saal und schaute sich aufmerksam um.
Mrs. Dawson und Minerva hatten sich selbst übertroffen, als sie die Gestaltung des Raumes planten. Italienisch anmutende Tonkübel mit großblättrigen Pflanzen begrenzten die Tanzfläche. Blütengirlanden schmückten die Wände. Hunderte von Kerzen flackerten in wunderschönen Kristallleuchtern. Lily hatte nie etwas Festlicheres gesehen.
Der Anblick, fand sie, hatte etwas Märchenhaftes. Noch konnte sie kaum glauben, dass sie tatsächlich an einem so großen gesellschaftlichen Ereignis teilnahm. Ihr Glück erschien ihr zerbrechlich. Doch gleichzeitig war ihr, als könnten an diesem Abend all ihre Hoffnungen und Träume in Erfüllung gehen.
„Es ist wunderschön, nicht wahr?“, sagte Lady Dayle, die unbemerkt zu ihr getreten war.
Lily nickte stumm. Dann wandte sie den Kopf und schaute ihrer mütterlichen Freundin einen Moment lang tief in die Augen. Ihr Blick verriet deutlich, wie dankbar sie der Viscountess war. „Danke, Mylady“, murmelte sie. „Danke für …“, sie machte eine hilflose kleine Geste, „… für alles.“
„Liebes, ich muss Ihnen danken!“ Lady Dayle lächelte. „Ich habe unsere gemeinsame Zeit sehr genossen. Es war schön zu erleben, wie großzügig und aufgeschlossen Sie sind und wie Sie sich über Kleinigkeiten freuen können. Sie haben mir gezeigt, wie viel Gutes in den meisten Menschen schlummert. Schauen Sie sich nur um! Viele der hier Versammelten haben sich während der letzten Wochen zugunsten der Waisenkinder eingesetzt. Das ist auch ein Beweis dafür, dass unsere harte Arbeit erfolgreich war.“
Damit hatte sie wohl recht. Lily erwiderte das warme Lä cheln der älteren Frau und ließ den Blick dann über die Gäste der Dawsons wandern. Ja, sie konnte zufrieden sein. Sie entdeckte ein paar würdige Vertreter der Kirche, die sich angeregt mit einer Duchess und deren Freundinnen unterhielten. Mehrere Frauen,
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