Miss Lily verliert ihr Herz
„Hannah More hat ihn’ gezeigt, was man mach’n kann. Ich glaub ja, dass se sowieso besser gegen das Böse kämpf’n könn als wir Männer. Liegt in ihrer Natur.“
Jack hob die Brauen.
„Nu sag’n Se endlich, was Se wirklich von mir woll’n!“
„Ich habe nicht gelogen, als ich von meinem Interesse an der Reformbewegung sprach“, gab Jack zurück. „Aber vielleicht können Sie mir tatsächlich noch in einem anderen Punkt weiterhelfen. Ich hätte gern ein paar Auskünfte über einen Ihrer früheren Kapitäne.“
„Welchen?“
„Batiste.“
Crump stöhnte. „Batiste, dieser Teufel! Was woll’n Se von dem?“
„Er versucht, jemandem zu schaden, der mir viel bedeutet. Das will ich verhindern“
„Erzähl’n Se!“
Er zögerte nur kurz. Dann begann er zu sprechen. Ohne Namen zu nennen, berichtete er von Trey und Chione, von Mervyn Latimers Entführung und all den anderen schrecklichen Dingen, die Batiste zu verantworten hatte.
„Die junge Frau“, unterbrach der Seemann ihn plötzlich, „wie sieht se aus?“
„Eine exotische Schönheit … Langes schwarzes Haar, dunkle Augen mit unglaublich dichten Wimpern und eine samtene, leicht gebräunte Haut.“
„Hölle und Teufel“, murmelte Crump, „Latimers Enkelin …“
Überrascht nickte Jack.
„Batiste hat’s also auf Latimers Familie abgeseh’n. Dieser Mistkerl! Is’ Latimer jetzt wieder zu Hause?“
„Ja. Batiste hat ihn monatelang auf einem seiner Schiffe festgehalten, aber nun ist er wieder frei. Allerdings schwebt er – genau wie seine Angehörigen – noch immer in Gefahr. Kürzlich erst ist bei ihm eingebrochen worden. Bei mir übrigens auch.“
„Dann wiss’n Se wohl, was Batiste sucht?“
„Ja, das verschwundene Juwel. Nur finden wird er es nie. Denn ein Edelstein dieses Namens existiert nicht.“
Neugier blitzte in Crumps Augen auf. Doch dann sagte der alte Mann nur: „Nein, ich will gar nichts darüber wiss’n. Wozu auch? Für die Toten gibt’s keine Geheimnisse. Un’ ich hab nich’ mehr lange zu leben.“ Plötzlich sah er sehr erschöpft aus.
„Ich möchte Sie nicht zu sehr anstrengen“, meinte Jack. „Aber eine Frage habe ich noch. Haben Sie eine Idee, wo Batiste sich verstecken könnte?“
Der alte Mann schloss die Lider.
„Crump! Bitte, helfen Sie mir. Batiste muss gestoppt werden!“
Keine Reaktion.
Jack wartete geduldig. Doch der Kranke schien eingeschlafen zu sein. Unschlüssig, was er tun sollte, runzelte Jack die Stirn.
„Wo is’ er zuletzt geseh’n word’n?“
„Bei Gibraltar.“
Erneute Stille.
Dann murmelte Crump mit schwacher Stimme: „Tazacorte.“
„Pardon?“
„Tazacorte. Kenn’ Se die Kanarischen Inseln nich’?“
„Ich bin nie dort gewesen.“
„Schön is’ es da. Un’ die Inseln gehör’n zu Spanien. Das is’ gut für Batiste. Die Engländer krieg’n ihn da nich’. Er hat sich schon oft im Hafen von Tazacorte versteckt. Ein Fischerdorf. Schöne Landschaft. Hübsche Mädchen …“ Die Stimme erstarb.
„Vielen Dank, Mr. Crump.“ Jack erhob sich und wandte sich zum Gehen.
„Is’ auf La Palma“, krächzte der alte Seemann. „Un’ noch was: Habgier un’ Angst mach’n ein’ Mann kaputt. Also hüt’n Se sich davor, mein Junge. Dann könn’ Se vielleicht mit bessrem Gewiss’n vor unsern Schöpfer tret’n als ich.“
„Danke, Mr. Crump“, wiederholte er heiser. Plötzlich war seine Kehle wie zugeschnürt.
9. KAPITEL
Lily stand direkt hinter Lady Dayle. Die extrem lange Empfangsreihe, die sich vor Minerva Dawson und ihren Angehörigen gebildet hatte, bewegte sich nur langsam voran. Nun, die Gastgeberin jedenfalls würde zufrieden sein. Schließlich galt ein Ball in London als besonders gelungen, wenn so viele Gäste anwesend waren, dass sie einander auf die Füße traten.
Die Menschenmassen machten Lily nervös. Doch plötzlich breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Ihre Unruhe hatte sich in dem Augenblick verflüchtigt, als ihr klar geworden war, dass die Anwesenden keine Bedrohung für die Waisen darstellten, die später für sie singen würden. Viele dieser Gentlemen und Ladies würden – genau wie die Vertreter der Reformbewegung – nach dem Gesangsvortrag bereit sein, den Kindern zu helfen.
Wie aufregend das alles ist, dachte sie, wie lange habe ich davon geträumt, an einem großen Ball teilzunehmen, und nun geht mein Wunsch tatsächlich in Erfüllung!
Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, aus der Realität in ein
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