Miss Lily verliert ihr Herz
lügen Sie! In Wirklichkeit haben Sie Angst davor, selbst enttäuscht zu werden. Jack, ich will Ihnen nicht wehtun. Doch ich halte es für meine Pflicht, Sie auf das Offensichtliche hinzuweisen. Verstehen Sie das denn nicht?“
Er trat einen Schritt zurück, und seine Augen blitzten zornig auf. „Ich weiß wahrhaftig nicht, was Sie zu solchen Worten bewegt! Ich jedenfalls habe niemals etwas gesagt, was derart absurde Vorstellungen in Ihnen wecken könnte.“
„Ausdrücklich gesagt haben Sie vielleicht nichts. Aber Sie haben mich nie wirklich an sich herangelassen, sondern stets Abstand zu mir gehalten – so, als habe ich eine ansteckende Krankheit.“ Sie schaute auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. „Sind Sie nicht gerade erst wieder vor mir zurückgewichen? Ihr Verhalten kränkt mich. Sie haben mich sogar geküsst, nur um mich gleich darauf zurückzuweisen.“ Damit wandte sie sich um und lief die Treppe hinauf.
„Bitte!“ Seine Stimme hörte sich so traurig an, dass Lily unwillkürlich stehen blieb.
In diesem Moment wurde die Eingangstür aufgestoßen. Lady Dayle und Minerva Dawson wurden – im wahrsten Sinne des Wortes – ins Haus geweht.
„Dieses unselige Wetter!“, schimpfte die Viscountess. „Der Wind bläst jeden Schirm fort, und der Regen ist so heftig, dass man innerhalb von Sekunden klatschnass ist. Kommen Sie nur rasch herein, Minerva. Vielleicht lässt der Sturm ja nach, ehe Sie wieder aufbrechen müssen. Ich lasse auf jeden Fall erst einmal heißen Tee bringen.“
Die Viscountess kämpfte mit ihrem völlig durchweichten Hut, als sie ihren Sohn bemerkte. „Jack! Ich habe mich schon gefragt, wo du während der letzten Tage gesteckt hast. Meine Güte, du siehst erschöpft aus. Wahrscheinlich arbeitest du zu viel.“
„Ja, ich habe eine Menge zu tun.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Deshalb kann ich leider nicht zum Tee bleiben.“ Er machte ein paar Schritte zur Haustür hin. „Charles ist übrigens zurück und macht in der Bibliothek ein Nickerchen.“
„Bleib doch noch ein bisschen, mein Lieber. Ich habe dich so lange nicht gesehen!“
„Es tut mir leid, Mutter. Aber ich muss etwas Wichtiges erledigen.“
Die Viscountess seufzte.
Minerva fragte: „Werden Sie zu meinem Verlobungsball kommen?“
„Miss Beecham hat mir von Ihren Plänen erzählt. Um nichts in der Welt möchte ich das Ereignis versäumen.“ Er beugte sich über Miss Dawsons Hand und hauchte einen Kuss darauf, ehe er sich auch von seiner Mutter verabschiedete.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, wandte Lady Dayle sich Lily zu, die noch immer oben an der Treppe stand. „Ich frage mich, warum Charles ausgerechnet in der Bibliothek schläft.“
„Das weiß ich leider auch nicht.“
„Nun, er wird es uns hoffentlich verraten, wenn er aufwacht. Bis dahin sollten wir uns mit einer Tasse Tee und etwas Gebäck stärken. Kommen Sie, Lily. Wir wollen uns in den Kleinen Salon setzen.“
Da es keine Möglichkeit gab, die Bitte auf höfliche Art abzulehnen, kam Lily der Aufforderung nach. Minerva hakte sich bei ihr ein. „Wir wollen einmal nicht über unsere Sorgen reden“, meinte sie. „Ich wüsste so gern, was Sie beim Ball tragen werden.“
„Oh! Ich möchte natürlich etwas Besonderes anziehen. Aber ich fürchte, ich habe über all meinen Aufgaben vergessen, ein Ballkleid in Auftrag zu geben. Und nun ist es wohl zu spät …“
„Keineswegs!“ Minerva strahlte. „Lady Dayle und ich haben nämlich mit der Schneiderin gesprochen, die kürzlich einige Ihrer Kleider geändert hat.“
„Sie hat in unserem Auftrag eine Robe für Sie entworfen, die Ihnen wunderbar stehen wird“, fiel die Viscountess ein. „Die Gentlemen werden Ihnen zu Füßen liegen.“
Es regnete, der Himmel war grau, die Themse roch unangenehm, alles wirkte trostlos.
Jack kam es vor, als spiegele die äußere Umgebung sein Inneres wider. Miss Beechams vorwurfsvolle Worte hatten ihm klargemacht, wie leer sein Leben tatsächlich war. Sicher, er hatte sich bewusst dafür entschieden, Abstand zu seinen Mitmenschen zu wahren. Und an den meisten Tagen war er davon überzeugt, eine kluge Entscheidung getroffen zu haben. Wenn er keine tiefere Zuneigung zu irgendwem entwickelte, konnte niemand ihm wehtun. Ein gutes, sicheres Konzept.
Heute jedoch erfüllte ihn ein ungewohntes Gefühl der Einsamkeit. Er hatte – wie Lily ganz richtig erkannt hatte – Mauern um sich her aufgerichtet. Er versteckte sich hinter
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