Miss Lily verliert ihr Herz
seinen Büchern vor der Welt. Er beschäftigte sich lieber mit der Antike als mit der Gegenwart. Seine Kenntnisse brachten ihm die Anerkennung anderer Wissenschaftler ein. Was also wollte er mehr?
Ja, was? Schließlich, so sagte er sich, habe ich meine Familie, der ich mich verbunden fühle, und Freunde wie Trey und Chione; alle anderen interessieren mich nicht wirklich.
Oder doch? Was zum Beispiel war mit Lily Beecham? Warum dachte er so oft an sie? Warum hatten ihre Worte ihn so getroffen? War es tatsächlich eine dumme grundlose Angst, die ihn dazu bewog, sich von seinen Mitmenschen fernzuhalten?
Nein, natürlich nicht! Es war vernünftig, Abstand zu wahren. Schließlich gab es unendlich viele oberflächliche, rücksichtslose oder gar boshafte Männer und Frauen. Es gab sogar gänzlich gewissenlose Verbrecher, wie zum Beispiel Batiste. Deshalb war es klüger und vor allem sicherer, sich gar nicht erst auf nähere Kontakte einzulassen. Es war richtig und wichtig, Mauern zu bauen.
Damit allerdings stellte sich eine neue Frage. Wie konnte er verhindern, dass Lily diese Mauern zum Einsturz brachte? Bei Jupiter, noch nie hatte er jemanden kennengelernt, der seine Sicherheit so bedrohte!
Jack unterdrückte einen Fluch und stellte mit einer gewissen Erleichterung fest, dass er sein Ziel, das Hospitalschiff, fast erreicht hatte. Es lag nicht weit entfernt am Ufer der Themse und trug den Namen HMS Grampus. Auf der einen Seite stand in großen Buchstaben: Seamen’s Hospital.
Ein müde aussehender Mann trat ihm in den Weg, als Jack über die Planke schritt, um an Bord zu gehen. „Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?“
„Das hoffe ich.“ Jack lächelte. „Darf ich mich vorstellen? Jack Alden.“
„Ich bin David Arnott, der Arzt.“
„Dann wissen Sie sicher, wo ich Mr. Crump finde?“
Der Doktor zögerte. „Sind Sie ein Verwandter?“
„Nein. Ein Freund hat mir von Mr. Crump berichtet und mich gebeten, dem alten Seemann einen Besuch abzustatten.“
Nachdenklich musterte Arnott den Fremden.
Rasch fuhr Jack fort: „Wie ich gehört habe, wird Crump wohl nie mehr auf große Fahrt gehen. Ich könnte mir vorstellen, dass er sich über die Gelegenheit freut, von alten Zeiten plaudern zu können.“
„Also gut. Ich bringe Sie zu ihm. Aber er darf sich nicht aufregen.“
Jack nickte.
Wenig später befand er sich mit dem Arzt unter Deck. Das Schiff war so umgebaut worden, dass es jetzt mehrere große Räume mit Krankenbetten gab. Alle waren leer.
„Wir haben das Hospital offiziell noch nicht eröffnet“, erklärte Arnott. „Es fehlt an Personal, Proviant und medizinischer Ausrüstung. Trotzdem wollen wir niemanden abweisen, der Hilfe braucht. Deshalb ist Mr. Crump bereits bei uns.“
In diesem Moment bemerkte Jack in einem der Betten eine hagere Gestalt, die heftig zitterte. Gleichzeitig tauchte aus einem Gang ein Mann auf, der einen wassergefüllten Schlauch trug und damit auf den Kranken zusteuerte.
„Hier kommt Ihre Wärmflasche, Mr. Crump“, sagte er freundlich, hob die Bettdecke und legte den Schlauch darunter.
Der alte Seemann zog die ungewöhnliche Wärmflasche eng an sich. „Danke.“
Der Krankenpfleger nickte Jack und dem Arzt zu und verschwand wieder.
Langsam trat Jack auf das Bett zu. Er war schockiert von dem, was er sah. Crump war nicht nur alt. Er war so abgemagert, dass er fast wie ein Skelett aussah. Jack konnte kaum glauben, dass in diesem Körper noch Leben steckte. Dünn wie Papier spannte sich seine Haut über den hervortretenden Knochen. Die Augen allerdings blickten den Besucher überraschend wach an.
„Guten Tag, Mr. Crump.“
Der alte Mann begann zu kichern, doch schon ging sein Lachen in einen heftigen Husten über. Als er sich beruhigt hatte, meinte er mit schwacher Stimme: „Crump reicht. Bin kein Mister. Wer sind Se?“
„Jack Alden. Wir sind uns bisher nicht begegnet.“
„Un’ warum sind Se dann hier?“
„Weil ich mich für die Ideen und Ziele der christlichen Reformbewegung interessiere und gehört habe, dass Sie eine Menge darüber wissen.“
„Hm …“
Es war offensichtlich, dass Crump dem Besucher nicht recht traute. Also sprach Jack erst ein wenig über seine Kontakte zu den Reformern und vor allem über Lord Dayle, seinen Bruder, der sich im Oberhaus für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte. Er stellte ein paar unverfängliche Fragen, die der alte Seemann bereitwillig beantwortete. „Die Frauen hab’n viel Erfolg“, erklärte er zum Beispiel.
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