Miss Lily verliert ihr Herz
er dem Außenministerium und der Amerikanischen Botschaft einen Besuch abgestattet. Dort hatte man sein Anliegen ernst genommen und ihm sogar eine kleine Delegation mit auf den Weg gegeben. Gemeinsam mit dieser war er dann wieder bei der Admiralität aufgetaucht und – erwartungsgemäß – empfangen worden. Er hatte berichtet, was er von Crump erfahren hatte, und sofort waren neue Befehle zur Erfassung des Verbrechers Batiste ausgegeben worden. Offenbar lag ein Schiff der Königlichen Marine in Porto Santo. In wenigen Tagen würde es La Palma erreichen und mit etwas Glück die „Lady Vengeance“ dort finden. Vielleicht, hatte Jack voller Hoffnung gedacht, wird man Batiste in allernächster Zukunft verhaften.
Er hatte sich seltsam leicht gefühlt und beschlossen, Miss Dawsons Verlobungsball zu besuchen, obwohl es dafür nun keinen Grund mehr gab. Er brauchte Lily und ihre verwandtschaftliche Beziehung zu Matthew Beecham nicht mehr. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – freute er sich auf das Wiedersehen mit ihr.
Nachdem er längere Zeit vergeblich nach ihr Ausschau gehalten hatte, ließ die freudige Erregung nach. War das eigenwillige Mädchen etwa schon wieder gegangen? Ärger wallte in ihm auf – und in diesem Moment sah er, wie sich das Licht der Kerzen auf einer rot-goldenen Haarpracht brach. Er machte ein paar Schritte nach vorn und blieb abrupt stehen. Es war nur eine dieser Debütantinnen, eine, deren Haar zufällig beinahe die gleiche Farbe wie Lilys hatte. Immerhin schien die junge Dame etwas vernünftiger zu sein als die meisten anderen. Statt sich auf irgendeinen oberflächlichen Flirt einzulassen, hatte sie sich hinter einer Säule versteckt.
Enttäuscht wandte Jack sich ab.
Langsam ging er weiter. Allerdings war er noch nicht weit gekommen, als sich in seinem Kopf eine Erkenntnis formte. Zögernd drehte er sich noch einmal zu dem Mädchen um. Diesmal musterte er es eingehender. Zuerst war er verwirrt, dann schaute er ungläubig drein, und schließlich weiteten seine Augen sich vor Erstaunen.
Unglaublich!
Er war schockiert. Eigentlich hatte er sich bei Lily entschuldigen wollen. Am Nachmittag schon hatte er sich seine Worte sorgfältig zurechtgelegt. Doch nun hatte er mit einem Schlag alles vergessen. Fassungslos starrte er diese wunderschöne Fremde an.
Bei Jupiter, wie schaffte sie es nur, ihn bei jedem ihrer Treffen aufs Neue so aus dem Gleichgewicht zu bringen?
Sie war bezaubernd. Das hatte er schon vorher gewusst. Doch wie war es ihr gelungen, sich aus der einfach gekleideten jungen Idealistin in diese flammenhaarige Sirene im verführerischen Ballkleid zu verwandeln?
Nein, eine Sirene war sie wohl nicht. Ihre Robe war in Creme- und Grüntönen gehalten, in den Farben des Frühlings. Sie musste eine Nymphe sein.
Das Gemälde einer nackten Nymphe, das er einmal bewundert hatte, fiel ihm ein. Aber natürlich war Lily nicht nackt. Ihr Kleid entsprach allen Vorschriften der Schicklichkeit. Dennoch brachte es jede ihrer weiblichen Kurven zur Geltung, ließ ihre Haut noch weicher und ihr Haar noch herrlicher erscheinen.
Flammen des Verlangens loderten in ihm auf, und noch immer starrte er Lily reglos an.
Jetzt bewegte sie sich, wandte sich zu ihm um, bemerkte ihn und straffte die Schultern. Wie stolz sie aussah! Und wie hinreißend weiblich!
Schließlich hatte er sich so weit gefasst, dass er langsam auf sie zugehen konnte. Lächelnd streckte sie ihm die Hand entgegen, die in einem cremefarbenen Handschuh steckte. Er verbeugte sich, hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken, hob den Kopf – und versank in Lilys blauen Augen.
Zunächst brachte er kein Wort über die Lippen. Dann hörte er, wie irgendwer hinter ihm kicherte und wie Lily „Guten Abend, Mr. Alden“ sagte.
Endlich fand er die Sprache wieder. „Ich dachte, wir hätten uns entschieden, auf solche Formalitäten zu verzichten, Lily.“
Sie hob die Augenbrauen. „Nach allem, was geschehen ist, halte ich es für das Beste, Ihnen ganz formell zu begegnen.“
„Ich fürchte, dazu ist es zu spät. Für mich sind Sie jetzt Lily und nicht mehr Miss Beecham.“ Bewundernd ließ er den Blick über ihre Frisur, ihr Gesicht, ihr Kleid wandern. „Außerdem sehen Sie heute wie eine Märchenprinzessin aus. Vielleicht würde ich gar nicht wagen, mich mit Ihnen zu unterhalten, wenn ich Sie nicht mit dem Vornamen ansprechen dürfte.“
„Welch ein Unsinn!“, gab sie zurück. Doch um ihre Mundwinkel spielte ein
Weitere Kostenlose Bücher