Miss Lonelyhearts
spannte sie zwischen zwei Bäumen eine Leine.
Er saß auf der Veranda und schaute ihr bei der Arbeit zu. Ihr Haar hatte sie mit einem karierten Taschentuch hochgebunden und war im Übrigen vollständig nackt. Sie wirkte ein wenig mollig, aber wenn sie etwas zu der Leine hochhob, verschwand alles Fett. Ihre gereckten Arme zogen ihre Brüste nach oben, bis sie wie Daumen mit rosa Spitzen waren.
Es wehte kein Lüftchen, das die Anziehungskraft der Erde gestört hätte. Die neuen grünen Blätter hingen senkrecht herab und glänzten in der heißen Sonne wie eine Armee kleiner Metallschilde. Irgendwo im Wald sang eine Drossel. Sie klang wie eine von Speichel verstopfte Flöte.
Betty blieb mit erhobenen Armen stehen, um dem Vogel zu lauschen. Als er verstummte, drehte sie sich mit einem schuldbewussten Lachen zu ihm um. Er warf ihr einen Kuss zu. Sie fing ihn mit einer kindlich erotischen Gebärde auf. Er schwang sich über das Verandageländer und lief zu ihr hinüber, um sie zu küssen. Als sie sich fallen ließen, roch er eine Mischung aus Schweiß, Seife und zerdrücktem Gras.
MISS LONELYHEARTS KEHRT ZURÜCK
Einige Tage darauf machten sie sich auf die Heimfahrt. Als sie die Slums der Bronx erreichten, wusste Miss Lonelyhearts, dass Bettys Kur nicht gewirkt und er recht gehabt hatte, als er sagte, er könne die Briefe nie vergessen. Mit diesem Wissen fühlte er sich wohler, denn er hatte sich schon für einen Simulanten und Narren gehalten.
Auf den Straßen drängten sich Menschenmengen mit träumerischer Heftigkeit. Als er ihre geschundenen Hände und ihre verzerrten Münder sah, überwältigte ihn der Wunsch, ihnen zu helfen, und da dieser Wunsch ehrlich war, fühlte er sich trotz des Schuldgefühls, das mit ihm einherging, glücklich.
Er sah einen Mann, der am Rande des Todes schien, in ein Kino taumeln, wo ein Film mit dem Titel «Blonde Schönheit» lief. Er sah eine zerlumpte Frau mit einem riesigen Kropf, die aus einer Mülltonne ein Heft mit Liebesgeschichten zog und vor Freude über ihren Fund ganz aufgeregt schien.
Von seinem Gewissen getrieben, begann er zu verallgemeinern. Die Menschen haben ihr Elend immer mit Träumen bekämpft. Obwohl Träumen einstmals Macht eigen war, haben das Kino, das Radio und die Zeitungen sie zu etwas Infantilem gemacht. Unter all dem Betrug ist das der schlimmste.
Was seinen Anteil daran besonders übel machte, war der Umstand, dass er imstande war, den Christus-Traum zu träumen. Er hatte das Gefühl, darin versagt zu haben, nicht so sehr wegen Shrikes Witzen oder seiner eigenen Selbstzweifel, sondern wegen seines Mangels an Demut.
Endlich ging er zu Bett. Vor dem Einschlafen gelobte er, einen ehrlichen Versuch zu unternehmen, demütig zu sein. Als er sich am nächsten Morgen auf den Weg zum Büro machte, erneuerte er sein Gelübde.
Zu seinem Glück war Shrike nicht in der Lokalredaktion, sodass seine Demut nicht sogleich auf die Probe gestellt wurde. Er ging direkt zu seinem Tisch und machte sich daran, Briefe zu öffnen. Als er etwa ein Dutzend aufgemacht hatte, wurde ihm schlecht, und er beschloss, seine heutige Kolumne zu schreiben, ohne auch nur einen einzigen zu lesen. Zu streng prüfen wollte er sich nicht.
Die Schreibmaschine war unbedeckt, und er spannte ein Blatt Papier in die Walze ein.
Christus ist für dich gestorben.
Er starb für dich an einen Baum genagelt. Sein Geschenk für dich ist Leiden, und nur durch Leiden kannst du ihn erkennen. Halte sein Geschenk in Ehren, denn …
Er riss das Papier aus der Maschine. Bei ihm war selbst das Wort «Christus» schon eine Eitelkeit. Nachdem er eine ganze Weile den Briefstapel auf seinem Schreibtisch angestarrt hatte, blickte er aus dem Fenster. Ein langsamer Frühlingsregen verwandelte die staubigen Teerdächer unter ihm in glänzendes Lackleder. Das Wasser machte alles glitschig, und er konnte weder für seine Augen noch für seine Gefühle einen Halt finden.
So wendete er sich wieder seinem Schreibtisch zu und nahm einen umfänglichen Brief in einem schmutzigen Umschlag zur Hand. Er las ihn aus dem gleichen Grund, aus dem ein Tier an einer verletzten Pfote reißt: um dem Schmerz wehzutun.
Liebe Miss Lonelyhearts!
Da ich ein Bewunderer Ihrer Kolumne bin weil Sie Menschen in Not so gute Ratschläge geben denn in Not bin ich auch wäre ich dankbar wenn Sie mir ebenfalls raten würden was ich tun soll nachdem ich Ihnen meine Notlage geschildert habe.
Während des Kriegs wurde mir gesagt wenn ich mein Teil
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