Miss Marples letzte Fälle
Vorhänge und die Teppiche farblich miteinander zu ve r schmelzen. Auch die Puppe war eins mit ihrem Hinte r grund. Mit bemaltem Maskengesicht, die langen, schlaksigen Glieder von sich gestreckt, ruhte sie regungslos in ihrem grünsamtenen Kleid und ihrer Sam t kappe. Sie war keine g e wöhnliche Puppe, wie Kinder sie kennen. Sie war eine L u xuspuppe, Spielzeug reicher Frauen, ein Ziergegen s tand, der neben dem Telefon zu sitzen pflegt, oder zw i schen Sofakissen. Wie sie so da lag, leblos und doch sonderbar lebendig, glich sie einem d e kadenten Produkt des zwa n zigsten Jahrhunderts.
Sybil Fox, die mit einigen Schnittmustern und einem Entwurf ins Zimmer geeilt kam, blickte mit einem leic h ten Gefühl der Überraschung und Verwirrung auf die Puppe. Sie wunderte sich – aber worüber sie sich auch immer wunderte, es nahm in ihren Gedanken keine ko n krete Gestalt an. Stattdessen dachte sie: Wo mag bloß das blaue Samtschnittmuster hingeraten sein? Wo habe ich es nur hingetan? Eben hatte ich es noch, das weiß ich ganz bestimmt. Sie trat vor die Tür und rief durchs Treppe n haus nach oben zum Atelier.
»Elsbeth! Elsbeth! Haben Sie das blaue Schnittmuster oben? Mrs Fellows-Brown kann jede Minute hier sein.«
Sie ging in das Zimmer und schaltete die Lichter an. Dabei warf sie abermals einen Blick auf die Puppe. »Also, wo zum Kuckuck – ach, da ist es ja.« Sie hob das Schnittmuster vom Boden auf, wohin es ihr aus der Hand geglitten war. Aus dem Treppenhaus ertönte das übliche Knarren, als der Fahrstuhl anhielt, und gleich darauf kam Mrs Fellows-Brown, begleitet von ihrem Pekinesenhün d chen, ins Zimmer geschnauft, einer Dampflok ähnlich, die würdevoll in einen Landbahnhof einfährt.
»Es wird gleich anfangen zu gießen«, verkündete sie. »Regelrecht zu gießen!«
Sie streifte Handschuhe und Pelz ab. Alicia Coombe kam ins Zimmer. In letzter Zeit kam sie nicht immer, sondern nur noch, wenn besondere Kundinnen erschi e nen, und Mrs Fellows-Brown war eine besondere Ku n din.
Elsbeth, die Direktrice des Ateliers, brachte das Kleid von oben, und Sybil streifte es Mrs Fellows-Brown über den Kopf.
»So«, sagte sie. »Es steht Ihnen wirklich ausgezeichnet. Eine entzückende Farbe, nicht wahr?«
Alicia Coombe lehnte sich ein wenig in ihrem Stuhl z u rück und betrachtete prüfend das Kleid.
»Ja«, sagte sie. »Ich finde, es ist gut geworden. Doch, entschieden gelungen.«
Mrs Fellows-Brown drehte sich zur Seite und betracht e te sich im Spiegel.
»Ich muss sagen, Ihre Sachen kaschieren immer fabe l haft meinen Po.«
»Sie sind jetzt aber viel schlanker als vor drei Monaten«, versicherte ihr Sybil.
»Das bin ich eben nicht«, entgegnete Mrs Fellows-Brown, »obwohl ich gestehen muss, in dem Kleid hier sieht es tatsächlich so aus. Irgendwie haben Ihre Sachen einen Schnitt, der meinen Po schrumpfen lässt. Ich sehe fast so aus, als hätte ich keinen – das heißt, eben nur den üblichen, wie ihn die meisten Menschen haben.« Sie seufzte und strich behutsam über den störenden Körpe r teil. »Der war immer ein gewisses Problem für mich. N a türlich konnte ich ihn viele Jahre einfach einziehen, wi s sen Sie, indem ich meine Vorderseite rausstreckte. Aber das geht jetzt nicht mehr, denn jetzt habe ich zu dem Po obendrein auch noch einen Bauch. Und ich meine – na ja, man kann schließlich nicht beides auf einmal einziehen, nicht wahr?«
»Sie sollten mal einige meiner Kundinnen sehen!«, trö s tete sie Alicia Coombe.
Mrs Fellows-Brown probierte beide Versionen.
»Ein Bauch ist schlimmer als ein Po«, stellte sie fest. »Es fällt mehr auf. Oder vielleicht bildet man sich das auch nur ein, weil man den Leuten die Vorderseite zukehrt, wenn man mit ihnen redet, und sie einem in dem M o ment nicht auf den Po schauen können, aber auf den Bauch. Na jedenfalls, ich hab ’ s mir zur Regel gemacht, den Bauch einzuziehen und den Po sozusagen Po sein zu lassen.« Sie verdrehte den Hals noch weiter nach hinten und sagte dann plötzlich: »Also, Ihre Puppe dort, die ve r ursacht mir eine richtige Gänsehaut! Wie lang haben Sie die schon?«
Sybil blickte unsicher zu Alicia Coombe, deren Gesicht einen verblüfften, aber auch irgendwie bekümmerten Ausdruck angenommen hatte.
»Ich weiß nicht genau… eine ganze Weile, glaube ich – ich kann mir einfach nichts mehr merken. Es ist schrec k lich in – letzter Zeit – ich kann mir nichts mehr merken. Sybil, wie lange haben wir sie schon?«
»Ich weiß
Weitere Kostenlose Bücher