Miss Saigon der Hund der Japaner und ich Roman
Mein Hirn hatte sämtliche Erinnerungen in einen großen Sack gesteckt, diesen fest zugeschnürt und ihn bleibeschwert irgendwo zwischen Okzipidal-Lappen und Großhirnrinde versenkt. Anschließend
hatte es sich in einen trockenen Schwamm verwandelt, der gierig Eindrücke aufsog, Zusammenhänge herstellte, die neue Welt zu erklären suchte. Ich lernte so schnell wie noch nie in meinem Leben. Auf die Person, die ich selber nur zwei Wochen zuvor noch gewesen war, blickte ich mit herablassendem Mitleid zurück. Nichts hatte ich von Vietnam und dem Leben hier verstanden! Wenige Wochen später fällte ich dann das gleiche Urteil über den Nick, der vorher geglaubt hatte, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.
Ein mentaler Turbobeschleuniger hatte sich über mich gestülpt und kurzzeitig die geltenden Regeln außer Kraft gesetzt: Ich fühlte mich gleichzeitig gealtert und verjüngt, abgezockter und unbedarfter. Ich sah, aß und tat Dinge, die bisher nicht einmal in meiner Vorstellung existiert hatten.
Und trotzdem fühlte sich das alles normal an.
Nach und nach schälte sich die Erkenntnis heraus, dass das Leben hier zwar anders aussah, anders roch und anders schmeckte - aber im Wesentlichen doch der gleiche Cocktail war, der überall auf der Welt serviert wurde:
★ 6 cl Alltag
★ 2 cl wirtschaftliche Rahmenbedingungen
★ Mit Lokalkolorit auffüllen
★ 1 Spritzer Religion
★ Umrühren und großzügig mit Traditionen und Bräuchen garnieren
Diese Rezeptur wird auch in Karatschi und Santiago de Chile serviert, in Lusaka und in Ulan Bator. Und doch schmeckt er
an jedem Ort anders, wirkt manchmal belebend und manchmal ermüdend, euphorisierend oder deprimierend.
Der »Saigon Sunrise« wurde jedenfalls schnell zu meinem Lieblingsdrink, und ich schenkte mir großzügig wieder und wieder davon ein.
7.
»Un-break my heaa-aaart! Say you’ll love me again!«
Obwohl Mr. Minh kein Wort Englisch verstand, sang er das Lied mit solcher Inbrunst, dass kein Zweifel daran aufkommen konnte, ob er die Bedeutung des Texts erfasst hätte.
»Un-do this hurt you caused, when you walked out the door, and walked out of my life.”
Sein ohnehin eingefallenes Gesicht in Kummerfalten gelegt, stand er mit leicht schwankendem Oberkörper da - völlig in die Welt der Klänge versunken. Nur manchmal öffnete er seine Augen, um den nächsten Textabschnitt zu lesen, der sich auf dem Fernsehschirm passend zur Geschwindigkeit der Musik gelb färbte.
»Un-cry these tears, I cried so many nights, Un-break my heart. My heeeeaaaart …«
Minhs völlig falsche Aussprache gab der todtraurigen Darbietung eine belustigende Komponente. Eine echte Tragikomödie, die ich in einer Privatvorführung genießen durfte.
»Das ist mein Lieblingslied«, sagte er, nachdem der letzte Ton verklungen war und die Karaokemaschine ihm mit einer Fanfare, 97 Punkten und der Einstufung »You are Winner!« zugejubelt hatte.
Ich selber kann der Heulboje Toni Braxton wenig abgewinnen, sah meinem Freund aber die geschmackliche Verirrung nach. Mittlerweile war die Untersuchung der musikalischen
Vorlieben von Vietnamesen zu einem Hobby von mir geworden, denn sie spiegelten auf unterhaltsame Art die spannende Entwicklung des Landes an der Grenze zwischen Isolation und Internationalisierung wider. Tourismus und Internet waren noch kaum existent, doch auf verschlungenen Pfaden kamen fremde Eindrücke ins Land. Irgendwie hatte es auch Toni Braxton geschafft, was mich an diesem Abend immerhin davor bewahrte, vietnamesischer Popmusik lauschen zu müssen. In dieser wurde zu den Klängen von Synthesizergeigen stets einer verflossenen Liebe nachgeschmachtet oder die Tugend der älteren Schwester gepriesen - und das entsprach noch weniger meiner Vorstellung von Rock’n’ Roll.
Den ganzen Tag über war ich schon mit Minh, einem Designer unserer Firma, unterwegs gewesen. Nun saßen wir auf der Dachterrasse meiner neuen Behausung. Wenige Wochen zuvor hatte ich meine beiden röhrenden Hirsche verlassen und war aus dem Hotel in eine kleine Villa unweit des Zentrums gezogen.
Seit Minh mir beim Vespakauf geholfen hatte, hatten wir uns angefreundet. Ein Ausländer, der sich - wenn auch radebrechend - in seiner Sprache verständigen konnte, war für ihn wie ein Fenster in eine andere Welt, das sich unerwartet geöffnet hatte. Allerdings sah er darin auch Dinge, die ihn erschütterten.
»Wie schickst du eigentlich das Geld an deine Eltern nach Deutschland?«, wollte er von
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