Miss Seeton riskiert alles
keinen Grund!«
Er betrachtete sie. Abgesehen von ihrer überquellenden Handtasche sprangen einem die Gründe geradezu in die Augen, wenn man all ihre Diamanten bedachte. Er wollte es im Augenblick gut sein lassen. Vielleicht konnte man aus den beiden Männern etwas herausbekommen. »Was ist mit dem Portier?« fragte er. »Soviel ich und Bob beobachten konnten, schien er Signale zu geben – winkte mit dem Taschentuch und putzte sich die Nase.«
Miss Seeton wurde rot. »O nein. Ich fürchte, das war ich.«
»Sie?«
»Ich schlug ihm ins Auge. Mit dem Bleiband«, fügte sie hinzu. Sie hatte das Gefühl, daß sie sich vielleicht nicht klar genug ausgedrückt hatte. »Ich bin an Pelzstolen nicht gewöhnt«, erklärte sie.
Da haben wir es wieder, dachte Bob düster. Das Betrugsdezernat hatte sie nur für den einen Abend heranziehen wollen, aber das würde nicht das Ende sein – nicht mit Tante Em. Wenn sie einmal losgelassen wurde, war sie nicht mehr zu bremsen. Sie würde bis zum Schluß mittendrin stecken, dort wo es am heißesten war, während sie umherliefen und versuchten, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen.
Dephick fühlte sich auf seltsame Weise aufgemuntert. Er war so sehr an Miss Seeton und ihren Schirm gewöhnt und an die Art, wie dieser aus eigenem Antrieb heraus zu ihrer Verteidigung in Aktion trat, daß er ihn schließlich als einen Talisman betrachtete, ohne den sie verwundbar sein könnte. Jetzt zeigte sich, daß jeder leblose Gegenstand – Pelzstolen, Handtaschen, das ganze Arsenal der Ausstattung einer Frau – in ihren Händen gefährlich war.
»Wo sollen Sie sich umkleiden, und wie sollen Sie nach Hause kommen?« fragte er.
»Ich weiß es nicht«, bekannte sie. »Mr. Haley hat sich um alles gekümmert, und ich – «
»Das ist richtig«, unterbrach sie Haley und erhob sich schwankend.
»Habe die Verantwortung. Ich bringe sie – bringe sie… « Seine Stimme verlor sich. Wohin bringen? Konnte sich nicht erinnern – im Augenblick nicht. Es würde ihm wieder einfallen. Aber nicht im Stehen. Beim Stehen schwankte alles. Sieh mal an, wie alles schwankte! So viele Wagen und so viele Menschen! Er setzte sich kichernd wieder hin. »Eine Menge Kies«, vertraute er seiner Umgebung an.
Delphick zögerte. Was sollte er mit diesem dummen Jungen tun? Er hatte schließlich Miss Seeton wie ein Soldat zur Seite gestanden, ohne Rücksicht darauf, ob er einen Arm, ein Bein oder sein Genick dabei riskierte. Wenn er ihn in diesem Zustand zum Yard mitnahm, würde der Junge in hohem Bogen hinausfliegen. War er denn wirklich betrunken, oder hatte jemand heimlich etwas in seinen Drink getan?
»Wo wohnen Sie?«
»Was – was…?« Haley sah mit glasigen Augen zu ihm auf. Er blinzelte. »Bei Gott – Chefsuper – Super…« Aber Superintendent war zu viel für ihn. »Es ist das Orakel«, murmelte er. Er versuchte aufzustehen. Seine Beine ließen ihn jedoch im Stich, und er fiel in Gebetshaltung vor Delphick auf die Knie.
Delphick biß sich auf die Lippen vor Lachen. »Bob!« Dieses eine Mal verletzte er seine eigene Regel, in der Öffentlichkeit seine Untergebenen nur mit dem Rang anzureden. »Bringen Sie diesen Klosternovizen zum Wagen, setzen Sie ihn auf den Beifahrersitz und lassen Sie ihn sich ausschlafen. Vielleicht redet er vernünftig, wenn er zu sich kommt. Mir wäre es ganz lieb, wenn ich erfahren könnte, was passiert ist. Wir bringen Sie jetzt nach Hause«, sagte er zu Miss Seeton. »Ich werde dafür sorgen, daß Sie morgen Ihre Kleider zurückerhalten.«
»Aber, Chefsuperintendent«, protestierte sie, »es ist viel zu weit. Ich kann gut mit dem Zug fahren.«
»Nicht in dieser Aufmachung«, erwiderte Delphick. »Der letzte Zug ist wahrscheinlich schon weg, und wie wollen Sie vom Bahnhof nach Hause kommen? Zu Fuß?«
»O nein. Wissen Sie, ich habe heute morgen mein Fahrrad dort stehen gelassen. Es sind nur ein paar Meilen.«
Ein Fahrrad? Das war wieder etwas Neues. Der Gedanke, daß Miss Seeton mit ihren Ringen, Armreifen und Perlen im Dunkeln über eine Landstraße sauste, war zu viel für ihn. »Keine Widerrede! Wir sind verantwortlich für diesen Tand, den Sie tragen, ganz abgesehen von dem Geld, das Sie geklaut zu haben scheinen – worüber ich noch Näheres hören werde. Sie gehen jetzt mit Bob zum Wagen und setzen sich auf den Rücksitz. Ich will hier noch ein oder zwei Dinge erledigen und bin in wenigen Minuten bei Ihnen. Sind Sie mit dem Wagen oder mit dem Taxi gekommen?«
»Mit
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