Mission Arktis
sich das Handgelenk.
»Papa?« Sie schob sich über das Dach zu ihm. »Mmm, einigermaßen okay«, murmelte er. »Hab mir nur die Hand gestoßen.«
Er sah zu dem Fahrer hinüber, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser lag. Sein Kopf war unnatürlich nach hinten verdreht. »Er hat sich den Hals gebrochen«, sagte Jennys Vater.
Die anderen beiden Wachen kämpften mit der Tür. Fernandez schlug die Schulter gegen den Türgriff, aber der rührte sich nicht. Der Wasserdruck, der von außen auf die halb überflutete Cat einwirkte, hielt die Tür geschlossen. »Scheiße!«, schimpfte er und hinkte auf einem Fuß zurück. Um ihn herum war das Wasser rot von dem Blut, das aus seiner Schusswunde ins Wasser strömte.
»Wir müssen etwas finden, mit dem wir die Scheibe einschlagen können!«, rief er. Im wässrigen Licht leuchtete das Weiße in seinen Augen.
Jenny trat auf ihn zu. »Wie wäre es damit?« Sie griff hinter den Rücken des zweiten Wachmanns und zog dessen Revolver aus dem Halfter. Dann drehte sie sich um und feuerte kurz entschlossen auf die Windschutzscheibe. Das arktische Sicherheitsglas zerschellte und brach teilweise weg.
»Jawohl!«, sagte Fernandez und nickte. »Das reicht.«
Der andere Mann steckte seine Waffe wieder ein und sah Jenny böse an.
»Nehmen Sie es Kowalski nicht krumm«, meinte Fernandez und winkte sie vorwärts. »Joe mag es nicht, wenn man seine Sachen anfasst.«
Sie duckten sich unter die Sitze.
Kowalski trat das restliche Glas der Scheibe weg. Das offene Wasser wirbelte und schäumte. Eisschollen hüpften um sie herum.
»Vom Regen in die Traufe«, murmelte Fernandez.
»Halten wir auf den Spalt da drüben zu«, schlug Jenny vor und deutete auf eine Stelle in der Eiswand, die aussah, als könnte man an ihr hinaufklettern.
»Ladies first«, sagte Kowalski.
Inzwischen standen sie bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Jenny stieß sich mit von der Kälte schon ganz tauben Beinen ab und schwamm durch das Loch im Fenster nach draußen. Sofort durchfuhr sie ein sengender Schmerz, und sie musste gegen den natürlichen Reflex ankämpfen, sich schützend zusammenzukauern. Meerwasser gefror bei 1,9 Grad Celsius, aber es fühlte sich eine Million Grad kälter an, so kalt, dass es brannte. Sie kickte und schob Eisbrocken aus dem Weg, brachte langsam die wenigen Meter zu der Eiswand hinter sich und hievte sich dort aus dem Wasser, wobei sie mit den Fingern, die inzwischen ebenfalls jedes Gefühl verloren hatten, verzweifelt nach Halt suchte.
Als sie aus dem Wasser war, blickte sie zurück. Die anderen folgten ihr. Kowalski versuchte Fernandez zu helfen, doch der schob ihn weg.
Hinter ihnen kippte die Sno-Cat mit brummendem Motor kopfüber ins Wasser und versank blubbernd in der blauen Tiefe. Die Lichter verglommen in der Finsternis. Einen Augenblick sah Jenny noch das bleiche Gesicht des Fahrers, das sich ans Glas presste. Dann war die Sno-Cat samt ihrem einsamen Insassen verschwunden.
Jenny half ihrem Vater aus dem Wasser. Der Riss in der Eiswand war mit messerscharfen Vorsprüngen bedeckt, die zum Glück eine natürliche Leiter bildeten, über die sie auf die Eisfläche klettern konnten.
Gemeinsam kämpften sie sich nach oben, eiskalt und durchnässt. Ihre Kleider waren im Handumdrehen hart gefroren. Ihre Haare froren an der Haut fest. Ihre Gliedmaßen bebten krampfhaft in dem vergeblichen Versuch, warm zu bleiben.
Einer nach dem anderen erreichte die Eisoberfläche, wie ein gestrandeter Wal. Nicht die Erschöpfung machte jede Bewegung schwer, sondern die Kälte, die sie alle wie ein Schraubstock im Griff hatte. Es gab kein Entkommen.
Der Wind hatte weiter zugenommen. Schnee und Eis wirbelten um sie herum.
Jennys Vater kroch zu ihr und nahm sie in die Arme. Seit ewigen Zeiten hatte er sie nicht mehr so gehalten. Sie war erst sechzehn gewesen, als sie ihre Mutter verloren hatte, und sie hatte die darauf folgenden zwei Jahre bei Onkel und Tante gelebt, während ihr Vater im Gefängnis saß, bis er auf Bewährung entlassen wurde. Danach hatte sie kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Aber das Leben der Inuit rankte sich unweigerlich um soziale Anlässe: Geburtstagsfeste, Feiern bei der Geburt eines Babys, Hochzeiten, Beerdigungen. So war Jenny gezwungen gewesen, einen, wenn auch unbehaglichen, Frieden mit ihrem Vater zu schließen. Aber sie waren sich nie mehr wirklich nahe gewesen.
Schon gar nicht so nahe wie jetzt.
Tränen strömten aus ihren Augen und froren auf ihren Wangen fest. Irgendetwas in ihr brach
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