Mission Clockwork: Angriff aus der Tiefe
möglich? Veränderte das Kind tatsächlich sein Aussehen, verwandelte es sein Gesicht, sodass seine Züge … gefälliger wurden? Der Junge wimmerte. Seine Nase, eben noch krumm und mit breiten Nasenflügeln, wirkte jetzt gerader. Es war, als ob der kleine Junge das Entsetzen in den Augen des Herrn gesehen hätte und sich mit Willenskraft dazu zwänge, ein ansprechenderes Äußeres anzunehmen. Die Stirn war jetzt flacher, die Augen hatten sich in der Größe angeglichen. Lag es an dem flackernden Gaslicht? Der Gentleman trat näher an den Käfig heran. Nein, das Gesicht des Jungen hatte sich tatsächlich gewandelt. Dann jaulte das Kind noch einmal auf wie ein verwundeter Welpe und schüttelte den klobigen Kopf.
Der Herr beugte sich fassungslos über den Käfig und holte tief Luft. Dieses Monsterkind war wahrhaftig ein Wunder! Es war jeden Augenblick der Abwesenheit von England wert, es war sein Gewicht in Gold wert. Seine Gabe könnte sich als wertvoller Gewinn erweisen. Es würde Jahre brauchen, den Jungen aufzubauen, doch der Gentleman verstand sich darauf, langfristig zu planen.
Er kletterte aus dem Wagen. Der alte Kauz trat von einem Bein auf das andere und hatte die Arme verschränkt, um sich zu wärmen.
»Ich möchte das Ausstellungsstück kaufen«, erklärte der Gentleman. »Das in dem Käfig.« Er sprach mit fester Stimme, um seine Erregung zu verbergen.
» Non! Non!« Der Kutscher wedelte abwehrend mit den Händen. »Das ist nicht möglich.«
Das alte Weib kam um den Wagen herumgehumpelt. »Es ist sehr wertvoll. Sehr wertvoll.«
Der Herr zog einen Beutel mit Münzen hervor. »Dies wird Euch für den Verlust entschädigen.«
Ein knochiger Arm schnellte unter dem Schultertuch der Alten hervor und griff nach dem Beutel. Sie öffnete ihn und lugte hinein. » Oui … das ist ein redlicher Handel.«
»Wo habt ihr ihn gefunden?«
»Er kommt von sehr weit her«, sagte der alte Mann. »Aus den Steppen. Aus dem alten Fürstentum Moldau, dem Land der Dämonen und …«
»Die Wahrheit!«, unterbrach ihn der Herr mit drohender Stimme. »Ich verlange, die Wahrheit zu hören.«
Das alte Weib trat näher an ihn heran. »Er wurde in der Nähe von Notre Dame ausgesetzt. Wir haben ihn einem Waisenhaus abgekauft.«
Der Gentleman nickte. Dann pfiff er und seine Kutsche, gezogen von vier stattlichen Pferden, preschte aus dem Nebel hervor. Drei Männer von tadelloser Erscheinung in dunklen Paletots sprangen herab. Sie marschierten auf den Wagen der Zigeuner zu, hievten auf Anweisung des Gentleman den Käfig mit der Missgeburt heraus und verluden ihn in die andere Kutsche.
»Lebt wohl«, sagte der Herr, während er auf das Trittbrett der Kutsche stieg. Im Hintergrund war das Kind zu hören, das jammerte und gegen die Käfigstäbe stieß. Sobald der Herr im Inneren der Kutsche verschwunden war, ertönte ein Peitschenknall und das elegante Gefährt verschwand im Nebel.
Leseempfehlung
Karl Olsberg, Rafael 2.0
Als E-Book ebenfalls im Thienemann Verlag erschienen:
Karl Olsberg
Rafael 2.0
ab 12 Jahren
ISBN 978 3 522 62038 3
Ein Zwilling als künstliche Intelligenz? Mike ist entsetzt, als ihm sein Vater Brian, ein berühmter Softwareentwickler, den verstorbenen Bruder als Computerprogramm überreicht. Nur zögernd lässt er sich auf eine »Beziehung« zu Rafael 2.0 ein. Doch die Neugierde siegt, Vertrauen entsteht, sie lernen sich immer besser kennen. Und dann müssen sie beweisen, dass sie ein Team sind, denn Brian ist plötzlich verschwunden ...
Stimmen zum Buch:
»Ein spannendes Buch, das am Anfang eher wie eine harmlose Kindergeschichte wirkt, nach 40 bis 50 Seiten jedoch fast Qualitäten eines Jugendthrillers bekommt. Karl Olsbergs Jugendroman hat jedenfalls alles, was 11- oder 12-jährige computerbegeisterte Leser mögen: ein bisschen Science-Fiction, einen sympathischen jugendlichen Helden und eine packende Story. Damit dürfte man gerade Jungen, die man sonst nur selten hinter einem Buch findet, zum Lesen bringen. Gut, dass es solche Bücher gibt.«
Ulf Cronenberg www.jugendbuchtipps.de
»Der wohl herausragendste Beitrag zur Science-Fiction im Jahr 2011 kommt von Karl Olsberg: Rafael 2.0 beginnt mit dem Versuch eines Vaters, den verstorbenen Sohn als Simulation wiederaufstehen zu lassen und entwickelt sich unmerklich von diesem elegischen Anfang zu einem rasanten existenzialistischen Thriller.«
J. Rüster in börsenblatt
Leseprobe
Karl Olsberg, Rafael
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