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Mission Walhalla

Mission Walhalla

Titel: Mission Walhalla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Festung.
    «Wir geben dir eine Zelle ganz für dich allein», sagte er. «Schließlich bleibst du ja nicht lange bei uns.»
    «Ach so? Wo komm ich denn hin?»
    «Einzelhaft ist besser für dich», sagte er, ohne auf meine Frage einzugehen. «Besser für dich, besser für die Männer. In diesem Drecksloch vertragen sich neuer Dreck und alter Dreck nicht besonders gut. Besonders, wenn der neue stinkt. Ich will gar nicht wissen, was du bist, du Wurm, aber du bist nicht bei der Army. Also kommst du unter Quarantäne, solange du unser Gast bist. Als hättest du Gelbfieber und Ruhr auf einmal. Kapiert?»
    «Jawohl, Sir.»
    Er öffnete eine Stahltür und signalisierte mir mit einem Kopfnicken, dass ich die Zelle dahinter betreten sollte.
    «Würden Sie mir vielleicht verraten, wo ich hier bin?»
    «Castle Williams ist ein Militärgefängnis der First Army der Vereinigten Staaten. Benannt nach dem Kommandeur des Ingenieurkorps, der es erbaut hat.»
    «Und die Insel? Wir sind doch auf einer Insel, oder?»
    «Governor’s Island, in der Bucht von New York. Also komm nicht auf den dummen Gedanken, du könntest von hier abhauen, klar?»
    «Im Leben nicht, Sir.»
    «Du riechst nicht nur anders, du redest auch anders. Woher kommst du?»
    «Unwichtig», sagte ich. «Weit weg und lange her. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Und ich erwarte keinen Besuch. Jedenfalls niemanden, den ich sehen möchte.»
    «Keine Familie?»
    «Familie? Ich weiß nicht mal, wie man das schreibt.»
    «Dann freu dich, dass wir dir ein Zimmer mit Aussicht auf die City geben. Für den Fall, dass du dich einsam fühlst.»
    Ich trat ans Fenster und blickte über die Bucht, während hinter mir die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. Ich stieß einen Seufzer aus. New York war riesig, so riesig, dass ich mich wie ein Winzling fühlte; man hätte schon ein Mikroskop gebraucht, um mich überhaupt zu sehen.

[zur Inhaltsübersicht]
Kapitel 4 NEW YORK 1954
    Castle Williams wurde ursprünglich als Militärkaserne genutzt, bevor es 1865 zu einem Gefangenenlager für Soldaten aus den Südstaaten umgewandelt wurde, wodurch ich mich hier irgendwie heimisch fühlte. 1903 wurde es gründlich renoviert und zu einem Vorzeigegefängnis des US -Militärs aufgemotzt. 1916 wurden sogar Stromleitungen gelegt und eine Zentralheizung eingebaut. All das erfuhr ich von einem der Wachleute, ansonsten hatte ich zu niemandem Kontakt. Von einem Vorzeigegefängnis konnte inzwischen keine Rede mehr sein. Die überfüllte Festung bröckelte an allen Ecken und Enden, und wenn irgendwas mit den Sanitäranlagen nicht stimmte, was nicht selten der Fall war, stank es nach Fäkalien. Offenbar hatte die Kanalisation ihre Tücken, weil Castle Williams auf Erdaufschüttungen errichtet worden war, mit Erde, die von Manhattan hergeschafft worden war. Ich konnte nur hoffen, dass diese Aufschüttung tatsächlich nur aus Erde bestand, denn damals in Russland verbargen sich dahinter oft ganz andere Dinge.
    Die Aussicht aus meinem Fenster war das einzig Gute an Castle Williams. Manchmal sah ich in der Bucht Segelyachten kreuzen und Linien ins Wasser schneiden. Doch die meiste Zeit sah ich Müllfrachter und hörte das laute Tuten ihrer Nebelhörner, und ich blickte auf die unermüdliche, wachsende Stadt. Das Gefängnis bietet wenig Zerstreuung. Deshalb starrt man die Wände an. Man starrt den Boden an. Man starrt die Decke an. Da war der schöne Ausblick ein richtiger Luxus. Wenn Gefangene sich selbst oder andere umbringen, dann meistens, weil sie einfach nichts Besseres zu tun haben.
    Aber um ehrlich zu sein, dachte auch ich hin und wieder daran, mir das Leben zu nehmen, denn selbst ein Fenster mit Blick auf Manhattan verliert seinen Reiz, wenn einem nichts anderes geboten wird. Ich malte mir aus, wie ich es anstellen würde. Man hatte mir zwar Gürtel und Schnürsenkel abgenommen, aber man konnte sich auch wunderbar mit einem Baumwollhemd aufhängen. Bei den meisten mir bekannten Selbstmorden in Gefängnissen – in Russland etwa einer pro Woche – hatten sich die Häftlinge mit einem Hemd erhängt. Ich riss mich zusammen und bemühte mich, die trüben Gedanken zu vertreiben, indem ich ab und an versuchte, mich selbst in ein Gespräch zu verwickeln. Aber das war gar nicht so einfach. Zum einen konnte ich Bernhard Gunther nicht besonders gut leiden. Er war zynisch und lebensüberdrüssig und hatte kaum ein gutes Wort für irgendjemanden übrig, schon gar nicht für sich selbst. Er hatte einen

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