Mission Walhalla
dem Sie an Hitler geglaubt haben wie alle anderen auch?»
«O doch. Den gab es. Nämlich rund einen Monat lang im Sommer 1940. Nachdem wir die Franzosen in nur sechs Wochen in die Pfanne gehauen hatten. Da hab ich an ihn geglaubt. Wer nicht?»
«Ja. Da war auch ich Feuer und Flamme.»
Nach einer Weile hörten wir laute Stimmen, und kurz darauf kam Vigée ins Zimmer. Er wirkte verärgert und außer Atem, und an einem Handrücken klebte Blut.
«Er ist nicht Richard Kettenacher», sagte er. «So viel steht fest. Aber er schwört, dass er nicht Edgard de Boudel ist. Also. Jetzt ist es an Ihnen, Gunther.»
Ich stand auf. «Na schön.»
Ich folgte dem Franzosen nach unten in den Weinkeller, wo Wenger und Möller unseren Gefangenen bewachten. Die Fotos, die die Amis mir gezeigt hatten, waren natürlich Schwarzweißaufnahmen gewesen, noch dazu aus einiger Entfernung aufgenommen, sodass die Vergrößerungen ein wenig unscharf und grobkörnig waren. De Boudel hätte zweifellos alles getan, um sein Aussehen zu verändern: Er hätte abgenommen, sich die Haare gefärbt, sich vielleicht einen Schnurrbart wachsen lassen. Als Streifenpolizist hatte ich in den zwanziger Jahren viele Verdächtige anhand von Fotos oder Polizeisteckbriefen festgenommen, aber jetzt musste ich zum allerersten Mal jemanden identifizieren, um meinen eigenen Hals zu retten.
Der Mann saß auf einem Stuhl. Er trug Handschellen, und seine Wangen waren rot; offenbar war er mehrfach geschlagen worden. Er sah aus wie um die sechzig, war aber vermutlich jünger. Ich war mir dessen sogar ganz sicher. Sobald er mich sah, lächelte der Mann.
«Bernie Gunther», sagte er. «Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal freuen würde, dich wiederzusehen. Sag diesem französischen Idioten, dass ich nicht der Mann bin, den er sucht. Dieser Edgard Boudel, nach dem er mich andauernd fragt.» Er spuckte auf den Boden.
«Wieso sagst du es ihm nicht selbst?», erwiderte ich. «Sag ihm deinen richtigen Namen, vielleicht glaubt er dir ja dann.»
Der Mann verzog das Gesicht und sagte nichts.
«Kennen Sie den Mann?», fragte Vigée mich.
«Ja, ich kenne ihn.»
«Und ist er das? Ist es de Boudel?»
«Wer ist denn dieser Boudel überhaupt?», fragte der Gefangene. «Und was wird ihm vorgeworfen?»
Ich nickte. «Gar keine dumme Idee», sagte ich zu dem Gefangenen. «Rausfinden, was der Gesuchte auf dem Kerbholz hat, und falls es nicht so abscheulich ist wie das, was du selbst verbrochen hast, nimmst du es auf deine Kappe. Wieso nicht? Ich seh dir förmlich an, wie es in deinem Hirn rattert.»
«Ich weiß nicht, wovon du redest, Gunther. Ich war die letzten neun Jahre in einem russischen Kriegsgefangenenlager. Was immer ich auch getan haben soll, ich hab dafür bezahlt, und das nicht zu knapp.»
«Interessiert mich einen Scheißdreck.»
«Ich will endlich wissen, wie der Mann heißt», sagte Vigée.
«Ja, wie heißt du?», sagte ich zu dem Gefangenen. «Wir beide wissen, dass du nicht Richard Kettenacher bist. Ich vermute, du hast ihm sein Soldbuch gestohlen und einfach das Foto ausgetauscht – mit Eiweiß festgeklebt. Die Russen achten meistens nicht auf die Eckstempel. Du hast dir gedacht, mit einem neuen Namen und einer anderen Diensteinheit würde man dir nicht auf die Spur kommen. Aber du wusstest, dass du nach Treblinka ein gesuchter Mann warst. Genau wie Irmfried Eberl, stimmt’s?»
«Ich weiß nicht, wovon du redest.»
«Ich auch nicht», warf Vigée ein. «Und langsam geht mir die Geduld aus.»
«Emile, darf ich vorstellen: Paul Kestner. Einst SS -Sturmbannführer und stellvertretender Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka in Polen.»
«Unfug», sagte Kestner. «Ausgemachter Unfug. Du weißt ja nicht, was du da redest.»
«Zumindest war er das, bis Himmler ihn und seinen Chef abgelöst hat, weil das Lagerpersonal die Massen von Vergasten nicht mehr bewältigen konnte und Tausende von Leichen überall in der Sommerhitze herumlagen. Hab ich nicht recht, Paul? Anschließend bist du in der Wehrmacht gelandet und hast am Ende Berlin verteidigt, als Wiedergutmachung für deine Verbrechen.»
«Blödsinn», sagte Kestner.
«Ihnen ist zwar nicht Edgard de Boudel ins Netz gegangen, Emile, aber dafür einer der schlimmsten Kriegsverbrecher in Europa. Ein Mann, der den Tod von mindestens einer Dreiviertelmillion Juden und Zigeuner zu verantworten hat.»
«So eine gequirlte Scheiße. Und glaub nicht, ich wüsste nicht, worum es hier eigentlich geht,
Weitere Kostenlose Bücher