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Mission Walhalla

Mission Walhalla

Titel: Mission Walhalla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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alles, womit man die Identität des echten Richard Kettenacher zweifelsfrei belegen konnte. Einige der Dokumente enthielten nämlich nicht nur ein Foto, sondern auch seine Unterschrift, seine Blutgruppe, Ergebnisse von ärztlichen Untersuchungen, Größenangaben von Gasmaske, Helm, Mütze und Stiefel, eine Auflistung von Verletzungen und ernsthaften Erkrankungen und militärischen Auszeichnungen.
    «Der Kommissar hier wird Ihnen den Empfang dieser Dokumente quittieren», sagte ich. «Und er wird dafür sorgen, dass Sie alles unbeschadet zurückbekommen.»
    «Ich hänge nicht an den Sachen», sagte sie. «Hauptsache, ich bekomme meinen Richard heil zurück.»
    «So Gott will, ja», sagte ich und steckte die Lebensgeschichte des Vermissten ein.
    Sobald Möller die Empfangsbescheinigung ausgestellt hatte, verabschiedeten wir uns und gingen zurück zum Wagen.
    «Und?», sagte Vigée.
    Ich nickte. «Ich habe alles.» Ich wedelte mit dem Umschlag, den mir die alte Frau gegeben hatte. «Alles. Dagegen hat Kettenachers Doppelgänger keine Chance. Das ist der Vorteil an der Nazi-Bürokratie. Sie hat eine Riesenmenge Dokumente produziert, und es ist praktisch unmöglich, diese anzufechten.»
    «Hoffen wir, dass es sich nicht doch um den echten Kettenacher handelt», sagte Vigée. «Vielleicht ist er erblindet und konnte seine Mutter nicht sehen. Kann ja auch sein, dass ihre Augen nicht mehr die besten sind und sie ihn nicht erkennen konnte.» Er sah die Dokumente durch. «Ich hoffe wirklich, dass Sie hiermit recht behalten. Enttäuschungen sind mir zuwider.»

[zur Inhaltsübersicht]
Kapitel 35 DEUTSCHLAND 1954
    Am nächsten Morgen blieb ich in Göttingen, während Vigée mit einigen anderen nach Friedland fuhr, um den Mann, der sich als Kettenacher ausgab, festzunehmen. Ich bat darum, in die Kirche gehen zu dürfen, aber Grottsch sagte, laut Anordnung von Vigée sollten wir die Pension bis zu seiner Rückkehr nicht verlassen. Er sagte: «Hoffentlich ist er es, damit wir bald zurück nach Hannover können. Ich kann Göttingen nicht ertragen.»
    «Wieso? Ist doch ein nettes Städtchen.»
    «Zu viele Erinnerungen», sagte Grottsch. «Ich habe hier studiert. Meine Frau auch.»
    «Ich wusste nicht, dass Sie verheiratet sind.»
    «Sie ist bei einem Luftangriff ums Leben gekommen», sagte er. «Im Oktober 1944.»
    «Das tut mir leid.»
    «Und Sie? Waren Sie schon mal verheiratet?»
    «Ja. Sie ist auch gestorben. Aber einige Jahre später. 1949. Wir hatten ein kleines Hotel in Dachau.»
    Er nickte. «Dachau ist sehr hübsch», sagte Grottsch. «War es jedenfalls mal, vor dem Krieg.»
    Einen Moment lang überließen wir uns schweigend der Erinnerung an ein Deutschland, das es nicht mehr gab und nie mehr geben würde. Jedenfalls nicht für uns. Und schon gar nicht für unsere armen Frauen. Die Gespräche nach dem Krieg liefen häufig so ab: Man verstummte mitten im Satz und dachte an einen Ort, der nicht mehr da war, oder an einen Menschen, der tot war. Bei den unzähligen Toten war die Trauer auf den Straßen förmlich greifbar, auch 1954 noch. Über dem ganzen Land hing eine tiefe, bedrückende Traurigkeit, wie während der Weltwirtschaftskrise.
    Wir hörten einen Wagen vor der Pension halten, und Grottsch ging nachsehen, ob sie unseren Mann dabeihatten. Einige Minuten später kam er mit besorgter Miene zurück.
    «Tja», sagte er. «Sie haben tatsächlich einen mitgebracht. Aber wenn das Edgard de Boudel ist, dann spricht er besser Deutsch als jeder Franzmann, dem ich je begegnet bin.»
    «Klar tut er das», sagte ich. «Er sprach schon fließend Deutsch, als ich ihn kennengelernt hab. Sein Deutsch war besser als meins.»
    Grottsch zuckte die Achseln. «Jedenfalls behauptet er steif und fest, dass er Kettenacher ist. Vigée konfrontiert ihn jetzt mit den Dokumenten vom echten Kettenacher. Haben Sie das Parteibuch gesehen? Da sind Spendenmarken drin, die bis 1934 zurückgehen.»
    Ich nickte. «Stimmt. Er war genau, wie ein Nazi sein sollte. Ist er jetzt mehr denn je, wo er tot ist.»
    «Irgendwas sagt mir, dass Sie selbst nicht in der Partei waren.»
    «Spielt das jetzt noch eine Rolle? Ob ich drin war oder nicht?» Ich schüttelte den Kopf. «Für unsere Freunde – die Franzosen, die Amis, die Tommys – waren wir ohnehin alle Scheiß-Nazis. Ist doch egal, wer wirklich einer war und wer nicht. Die gucken sich die ganzen alten Leni-Riefenstahl-Filme an, kann man es ihnen da verdenken?»
    «Hat’s nie mal einen Moment gegeben, in

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